1003 - Die Templer-Säule
die Antwort genau. Er rechnete damit, daß ich zu ihm oder zu ihnen gehörte, aber das stimmte im Prinzip nicht und auch wieder doch. Wie würde er auf das Phänomen der Wiedergeburt reagieren? Was würde er tun, wenn ich ihm sagte, daß ich einmal er gewesen war und sich sein Geist nach dem Tod mit dem des Sehers vereint hatte? Konnte er das verkraften? Wenn ja, würde sich dann in gewissen Kleinigkeiten am weiteren Verlauf der Geschichte etwas ändern?
Das alles ging mir durch den Kopf. Auch der König merkte, daß ich meine Probleme hatte. Er fragte: »Kannst du es mir nicht sagen? Oder möchtest du es nicht?«
»Das ist schwierig, Salomo.«
»Ich glaube es dir. Aber darf ich dich um etwas bitten, John?«
»Gern.«
»Ich möchte das Kreuz anfassen. Ich bitte dich darum, es mir zu geben. Ich werde es nicht behalten, es gehört dir, aber es ist etwas Wunderbares, das weiß ich. Ich kenne es aus meinen Träumen, und ich weiß, daß man es ein Kreuz nennt. So hat es auch Hesekiel bezeichnet und erklärt, daß es einmal sehr wichtig werden würde.«
»Dieses Kreuz?« fragte ich.
»Nein, bestimmt nicht. Aber es ist ein Zeichen. Ich weiß von einem Gerechten, der daran hingerichtet wurde.« Salomo schüttelte den Kopf. »Nein, die Gedanken sind schlimm, und ich komme auch nicht…« Er stoppte seinen Redefluß. »Ich weiß es nicht mehr. Es sind Träume gewesen. Reisen in die Träume hinein. Nicht alles habe ich behalten.«
»Nimm das Kreuz«, sagte ich leise. »Bitte…«
»Ja, denn so erfüllt sich ebenfalls ein Traum oder eine Prophezeiung. Hesekiel sagte mir, es wird der Tag kommen, wo jemand aus einer fernen Zeit erscheint und dir etwas zeigen will. Als wir uns in der Tempelhalle sahen, da habe ich an seine Worte gedacht. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, auch für das, was er mir erklärte und zeigte. So habe ich meine Weisheiten empfangen können und den Krieg zwischen den Völkern hassen gelernt.«
Er griff nach dem Kreuz.
Ich drückte es ihm zwischen die Finger. Salomo hielt es fest wie ein kostbares Kleinod. Seine Augen leuchteten plötzlich auf. Er lehnte sich zurück in das weiche Kissen und schaute verträumt zur Tempeldecke.
Ich hätte einiges gegeben, um seine Gedanken zu erraten. Das war nicht möglich, und so hoffte ich, daß er sie mir später mitteilte, wenn ich das Kreuz wieder besaß.
Seine rechte Hand zuckte. Er hatte sie zur Faust geschlossen. Aus ihr ragte das Kreuz hervor, ohne allerdings aufzustrahlen. Sein Mund war zu einem breiten Lächeln verzogen. Die Augen hielt er beinahe geschlossen. So wie Salomo sah ein Mensch aus, der gerade seine Traumwelt bereiste.
Er teilte mir seine Gefühle nicht mit, aber sie waren vorhanden, das entdeckte ich auch auf seinem Gesicht. Hin und wieder zuckten die Wangen, dann öffnete er den Mund, aber er stöhnte nur auf oder sprach so leise, daß ich kein Wort verstand.
Seine freie Hand konnte er ebenfalls nicht ruhig halten. Immer wieder wischte er mit der Fläche über ein Polster hinweg, als wollte er den roten und mit Goldfäden durchwebten Stoff allmählich zerreiben. Schließlich führte er das Kreuz an seinen Mund und küßte es. Danach ließ er die Hand sinken, öffnete die Augen wieder und schaute mich intensiv an, ohne allerdings etwas zu sagen.
Seine Augen hatten sich vom Ausdruck her verändert, das stellte ich sofort fest. Ich saugte mich quasi an seinen Pupillen fest, die ihre normale Klarheit verloren hatten und nur allmählich wieder in ihren alten Zustand hineinglitten. Seine Finger bewegten sich wie verlangsamt, als er die Faust öffnete, damit das Kreuz wieder freilag.
»Du hast es erlebt?« fragte ich leise.
Salomo nickte, ohne mich anzusehen. »Ja, ich habe es erlebt. Ich war woanders, und es durchfuhr mich eine Wärme wie noch nie. Es war einfach ein wundersames Erleben, und ich sah Bilder, die ich nie vergessen werde.«
»Möchtest du darüber sprechen?«
Der König ließ sich Zeit mit der Antwort. »Nicht gern«, gab er dann zu.
»Was ist der Grund?«
»Ich habe vielleicht in das Reich Jahwes gesehen. Ich schwebte davon, sah helle Lichtgestalten, und ich fühlte mich plötzlich geborgen. Vier Männer waren es, die strahlten und mich aus ihrem Reich anschauten.«
Ich wußte, wen er gesehen hatte. Die Anfangsbuchstaben der Erzengel waren in das Kreuz eingraviert worden, aber damit konnte er wohl nichts anfangen, deshalb hielt ich den Mund.
Salomo sprach weiter. »Sie waren so gütig, und sie haben all die schlechten
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