1003 - Die Templer-Säule
Ich bin über das große Wasser in dein Reich gelangt.«
»Das große Wasser«, murmelte er. »Ja, ich habe davon gehört. Reisende berichteten mir davon.« Er streckte den linken Arm aus und zeigte auf mich. »Sag mir ehrlich, kleidet man sich in eurem Land so wie du?«
»Das ist so.«
»Es muß ein geheimnisvolles Land sein. Wo finde ich es, Namenloser?«
»Ich heiße John Sinclair…«
Er dachte über den Namen nach, das war ihm anzusehen. Nur kam er zu keinem Ergebnis. Er hakte aber auch nicht nach. Ich war keine Gestalt aus der Geschichte, im Gegensatz zu ihm. Erwähnte man in unserer Zeit seinen Namen, so wußten die meisten Menschen Bescheid, doch Salomo nickte nicht mal. Er blickte mich nur prüfend an, als wartete er auf eine Erklärung.
»Ich stamme nicht nur aus einem anderen Land, sondern lebe auch in einer anderen Zeit.« Es war eine normale Erklärung, aber schwer zu begreifen, selbst für einen weisen Herrscher wie Salomo.
Dennoch zeigte er sich gefaßt. »Man sieht es dir an, daß du aus einem anderen Land zu uns gekommen bist, aber ich denke über das Wort Zeit nach. Ich weiß, daß es die Zeit gibt, und in meinen Träumen habe ich erlebt, daß es die Zeit manchmal nicht gibt. Da ist sie aufgehoben. Da erlebe ich mich selbst in anderen Welten und sehe etwas, mit dem ich beim Erwachen nicht zurechtkomme…«
»Auch Menschen so wie ich? Triffst du sie in deinen Träumen? Sehen sie dann so aus?«
»Ich weiß es nicht, denn ich vergesse vieles. Aber sag mir, wo deine Zeit liegt.«
»Sehr weit in der Zukunft«, erwiderte ich leise, »und die Welt, wie du sie siehst, Salomo, gibt es in meiner Zeit nicht mehr. Da hat sich fast alles verändert, aber sprechen wir nicht von meiner Zeit, sondern von deiner, in die ich geschickt worden bin.«
»Dann hast du mich besuchen wollen?«
»Das ist immer mein Wunsch gewesen.«
Er überlegte scharfsinnig und sagte: »Dann mußt du in einer Zeit leben, in der das geschehen kann, nicht wahr?«
»Ja und nein«, gab ich zu. »Nicht alle Menschen können diese Reisen unternehmen. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, und zu ihnen darf ich mich zählen.«
»Dann bist du auch so etwas wie ein König in deiner Welt?«
»Nein, nein!« Ich lachte. »Ich bin kein König. Ich habe auch längst nicht die Macht wie du.«
»Trotzdem bist du hier.«
»Ja«, sagte ich. Salomo wurde mir immer sympathischer. Ich hatte Vertrauen zu ihm gefaßt. Die Chemie stimmte zwischen uns, und auch er wußte, was er an mir hatte. Er war ein intelligenter und weiser Mann, der an den Problemen seiner Zeit großes Interesse zeigte und sicherlich noch mehr wissen wollte.
»Warte bitte noch«, sagte er und hob die rechte Hand. Dann drehte er sich um und schaute zurück.
Sein Gefolge hatte sich nicht bewegt. All die Menschen wirkten in dem Tempel wie die starr gewordene Kulisse zu einem Film, und es griff auch kein Hohepriester ein. Für mich waren sie so etwas wie Hofschranzen, aber man mußte sie und ihre Beziehungen zur Macht akzeptieren. Zumindest das Volk tat das. Und über welche Macht sie verfügten, das wußte ich von den alten Ägyptern her.
Salomo sprach mit ruhiger Stimme, doch ich kriegte nicht mit, was er sagte, denn meine Gedanken waren wieder auf Wanderschaft gegangen.
Zudem fühlte ich mich jetzt besser. Das bedrückende Gefühl der Furcht hatte mich verlassen. Ich war wunderbar aufgenommen worden. Der König hatte mich nicht als Feind angesehen, und ich konnte nur hoffen, daß es so blieb, denn noch hatte ich nicht mit ihm über meinen größten Wunsch gesprochen.
Wenn ich an die Bundeslade dachte, bekam ich eine trockene Kehle. Noch immer konnte ich mir nicht vorstellen, daß ich in ihrer Nähe stand. Wenn die Überlieferungen stimmten, dann hatte der König sie hier im Tempel versteckt, fast zum Greifen nahe.
Wie würde er reagieren, wenn ich ihn fragte? Ich stieß die Luft aus und nahm mir vor, mir darüber zunächst keine Gedanken zu machen und erst einmal abzuwarten.
Salomo hatte seine Befehle erteilt. Die Träger drehten sich um, die Soldaten verließen ebenfalls ihre Plätze, und auch das Volk, das in der Nähe des großen Eingangs wartete, zog sich wieder zurück. Ich fragte mich, ob sich die schöne Esther unter den Zuschauern befunden hatte. Auch ihr mußte ich dankbar sein, da sie mir sehr geholfen hatte.
Der König war zufrieden, drehte sich wieder um und schaute mich an. »Ich weiß, daß du mir viel erzählen kannst, dich aber auch Fragen quälen. Wir
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