1004 - Das Phantom in der Fremde
erst der Beginn«, flüsterte Alischa. »Es wird weitergehen, das kannst du mir glauben.«
»Und warum sollst du sterben?«
»Verräter sterben immer.«
»Wen hast du denn verraten?«
Sie schaute für einen Moment ins Leere. »Ihn – Lalibela. Ihn habe ich verraten. Unsere große Sache. Uns gehört die Lade. Wir sind die legitimen Nachfolger. Wir wollen sie haben. Wir müssen in ihrem Namen die Regierung in Äthiopien übernehmen, und wir müssen die alten, die uralten Zeiten wieder zurückholen. Sie wird diesem Land den gleichen Schutz geben wie den Stämmen Israels. Sie hat Jericho in Schutt und Asche fallen lassen. Sie hat den Krebs und die Pest über die Feinde des Volkes gebracht, und sie wird das gleiche über unsere Feinde bringen. Zurück zu den Wurzeln des Alten. Zu dem, wo alles einmal seinen Anfang genommen hat. Nur wenn wir so werden, dann wird man uns auch die Macht übertragen. Wir sind nahe an die Lade herangekommen, aber auch andere haben es versucht. Wir müssen die Feinde vernichten…«
Ihre Worte versickerten. Mit Entsetzen stellte Suko fest, daß die Frau schwach und schwächer wurde. Sie saß starr auf dem Sitz und schien froh zu sein, daß sie gestützt wurde. Der Atem floß nur spröde über ihre Lippen, die Augen hielt sie offen, aber sie machte nicht den Eindruck einer Frau, die auch etwas sah. Zumindest nicht das, was sich in ihrer unmittelbaren Umgebung abspielte.
Suko erlebte bei Alischa so etwas wie den Vorgang des Verfalls, und er wußte nicht, wie er ihn stoppen sollte. Er wünschte sich seinen Freund John Sinclair an die Seite, der aber war weit weg.
Suko trug kein Kreuz bei sich wie Sinclair. Er konnte nur versuchen, seine Worte so einzusetzen, daß Alischa sich endlich drehte und wieder dem normalen Leben zuwandte.
Er fragte sich nur, ob sie dazu noch in der Lage war. Sie hatte Blut verloren, blutete zwar jetzt nicht mehr, aber erholt hatte sich die Frau nicht. Es ging ihr nach wie vor schlecht. Suko fragte sich, in welch ein seelisches Dunkel sie gefallen war. Als sie den Kopf drehte, erschrak Suko über den Ausdruck in ihren Augen, obwohl diese nicht bluteten.
Sie zeigten nur das Erschrecken und spiegelten die geistige Folter wider, unter der Alischa litt. Ihr Blick war so schrecklich traurig und verloren. Sie zitterte. Sie konnte nicht sprechen. Dafür hob sie die rechte Hand an, als wollte sie dem Inspektor ein entsprechendes Zeichen geben.
Suko nahm diese Geste wahr. Er berührte die Finger. Sie fühlten sich anders an. Sie waren so kalt. Sie glichen den Zweigen eines alten Baumes, aus dem der Saft entwichen war. Sie waren schlaff und lappig zugleich.
»Alischa«, sagte er leise, aber eindringlich. »Sie brauchen nicht zu sterben. Sie dürfen nicht aufgeben. Wir beide werden gemeinsam einen Weg finden.«
»Nein«, sagte sie, »es gibt ihn nicht. Er hat mich verlassen. Er, der mich immer geführt hat. Lalibelas Geist hat sich zurückgezogen. Ich habe seine Feinde nicht stoppen können…«
»Warum Feinde? Ich habe nicht vor, euch zu töten. John Sinclair auch nicht.«
»Jeder, der versucht, an die Lade heranzukommen, ist ein Feind. Er muß ausgeschaltet werden.«
»Manche meinen es aber gut.«
»Nein, nur wir. Nur die Diener des großen Königs. Wir sind dabei, sein Reich wieder neu zu errichten. Dafür haben wir gekämpft. Dafür haben wir die Strapazen auf uns genommen, und wir sind sehr nahe dran. In diesem Jahr, auf diesem Fest, werden wir die Lade in unseren Besitz bringen und den neuen Staat gründen. Ich habe leider nicht am Ort sein können, aber auch ich bin immer mit dem großen König verbunden. Du hast es erlebt, du hast mich gesehen. Keiner von uns darf Fehler begehen. Keiner!«
Sie röchelte plötzlich. Die Worte wurden ihr abgeschnitten, und einen Augenblick später sackte sie zusammen. Alischa konnte nicht fallen, der Sitz und der Gurt hielten sie, aber es war zu sehen, wie sie allmählich verfiel.
Das Gesicht hatte an Farbe verloren. Sie war so schrecklich bleich geworden. Und es sah so aus, als wären braungraue Schatten dabei, über ihre Wangen zu huschen. Alischa atmete nur noch schwach.
Suko wußte, daß sie sterben würde, wenn sie nicht bald in ärztliche Behandlung kam. Ein Krankenhaus gab es in Lauder nicht. Nur einige Ärzte, von denen einer, das wußte Suko, einige Krankenzimmer in seiner Praxis unterhielt. Dort mußte die Frau zunächst hingeschafft werden.
Während Suko sich nach links beugte und im Handschuhfach nach dem
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