1007 - Totenwache
magisches Phänomen hin. Er war tot, aber er lebte trotzdem irgendwo weiter, da war ich mir sicher. Allerdings stand er dabei unter einem anderen Einfluß.
Bisher hatte ich ihn noch nicht berührt. Der erste Blick über seinen Körper war auch nur flüchtig gewesen, weil mich eben der neue Augenausdruck zu stark fasziniert hatte. Jetzt konzentrierte ich mich stärker auf die Gestalt, die ebenfalls in ein Tuch eingepackt worden war, damit die Wunden verhüllt waren.
Jeder Mensch verändert sich im Tod. Da machte auch mein Vater keine Ausnahme. Es war zwar sein Gesicht, aber es war trotzdem nicht der Ausdruck, den ich kannte. Natürlich war er bleich, natürlich war er eingefallen. Seine Lippen waren schmal geworden, und bei genauerem Hinsehen entdeckte ich auf der Haut kleine, braune Flecken. Möglicherweise eingetrocknetes Blut, das nicht vollständig abgewaschen worden war.
Noch hatte ich ihn nicht berührt, und ich schreckte auch jetzt davor zurück. In meiner Kehle hatte sich Stacheldraht festgesetzt. Er kratzte. Ich bekam kaum Luft und fühlte mich wie jemand, der allmählich vereiste.
Nein, in den Augen tat sich nichts. Auch nachdem ich einen schnellen Blick dort hineingeworfen hatte, sah ich keine Reaktion.
Sie blieben weiterhin glatt. Wie zwei leicht gekrümmte, dunkle Spiegel, in denen ich mich sogar sah.
Oder…?
Ich war für einen Moment irritiert. Oder hatten sich die Augen bewegt? Allein diese Frage sorgte für einen Adrenalinstoß, der jetzt durch meinen Körper raste.
Ich blickte auf die Kerzen. An den Dochten tanzten die Flammen.
Sie schufen ein Muster aus Licht und Schatten. Beide tanzten über das Gesicht meines Vaters, und wahrscheinlich hatte mich dieses Spiel irritiert.
Tief holte ich Luft. Mehrmals hintereinander. Der Schwindel ließ sich kaum vertreiben. Ich kam mir wieder vor wie jemand, der mit beiden Beinen auf brüchigem Eis stand, aber es brach nicht.
Trotzdem war es mir nicht möglich, mich der Faszination dieser rätselhaften Augen zu entziehen. Sie schienen mich von unten her anzuschauen und in mein Gesicht zu starren. Sie holten dort alles an Wissen hervor. Sie waren wie zwei Sensoren, die mich und auch mein Inneres erforschen wollten.
Ich dachte nicht mehr daran, dem Bann meinen Widerstand entgegenzusetzen, ich mußte hinschauen. Unsichtbare Hände hielten mich fest. Sie zwangen mich, den Blick einzig und allein auf die Augen zu richten.
Es bewegte sich dort etwas. Oder bewegte ich mich? So genau war es nicht zu erkennen, aber das Gefühl, einfach schweben zu können, verstärkte sich zusehends.
Ich glitt in die Augen hinein.
Ich trieb weg.
Ich trieb auf Lalibela zu…
Plötzlich hatte ich den Eindruck, in seine Sphäre zu gelangen. Er, dessen Körper schon längst vermodert war, hatte seinen Geist nicht in die tiefen Sphären eingetaucht, sondern ihn noch gelassen. Er war da, er wollte und würde mich holen. Ich spürte es sehr deutlich, wie er nach mir griff und mich beeinflussen wollte.
Nach wie vor schaute ich nach unten. Auch wenn ich es gewollt hätte, ich konnte meinen Kopf nicht bewegen, auch nicht woanders hinschauen als auf das Gesicht meines toten Vaters. Immer stärker überkam mich der Eindruck, daß etwas in diesem toten Körper geschah, das auch für mich nicht ohne Folgen bleiben würde.
In mir veränderte sich etwas. Aber ich wußte nicht zu sagen, was sich da getan hatte. Mein Inneres war aufgewühlt. Ich glich schon einem Kreisel, der sich auf der Stelle drehte. Es war eine ferne Botschaft, die mich erwischte.
Ich schwamm weg.
Wohin?
Gedanken, Pläne, alles wirbelte durcheinander. Bilder liefen vor meinem geistigen Auge ab. Ich sah mich inmitten eines Zentrums aus wilden Bewegungen, und die Augen des toten Horace F. Sinclair wurden größer und größer.
Sie zogen mich an.
Sie waren wie Magnete, denen ich nichts entgegensetzen konnte.
Ich war einfach nicht in der Lage, mich daraus zu befreien. Trotz allem setzte sich in meinem Kopf ein Gedanke fest.
War mein Vater endgültig tot – oder war er es nicht?
Es gab eine Verbindung zwischen uns. Ein Band. Ich merkte selbst, wie ich mich dabei veränderte. Ich verlor zwar nicht mein eigenes Ich, aber die andere Seite wurde stärker und stärker. Für mich war es unmöglich, herauszufinden, in welch einen Bann ich hineingeriet.
Vielleicht hatte die Seele meines toten Vaters und Lalibela sogar einen Pakt geschlossen. Möglich war jedenfalls alles.
Plötzlich war alles vorbei!
Dieser
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