1007 - Totenwache
aus? Ich hatte noch kein Gesicht gesehen.
Das war damals in Aksum anders gewesen, aber hier konnte ich einfach nur noch raten.
Mein Vater stand vor mir. Welche Kraft ihn zum Leben erweckt hatte, wußte ich nicht. Es war mir im Moment auch egal. Es war auch nicht mehr mein Vater. In den letzten Minuten hatte ich es geschafft, mich innerlich von ihm zu trennen. Ich wollte auch keine Totenwache mehr halten. Ich wußte nur, daß ich etwas unternehmen mußte, denn eine derartige Gestalt durfte nicht länger existieren.
Ich mußte ihn vernichten.
Ihn, meinen eigenen Vater. Die Person, die mich als Kind immer beschützt und auch großgezogen hatte. Ihn mußte ich töten. Mit einer Kugel, mit dem Kreuz oder wie auch immer.
Eine grauenhafte Vorstellung, vorausgesetzt, es gab kein Zurück mehr. Aber daran glaubte ich nicht.
Wieder gab es einen Riß in meiner Gedankenwelt. Ich drehte mich Crady zu. »Nehmen Sie die Kapuze ab!« forderte ich ihn mit harter Stimme auf.
»Warum?«
»Ich will Ihr Gesicht sehen. Nehmen Sie die Kapuze ab, verdammt noch mal!«
Er mußte dabei meine Waffe sehen, denn ich hatte sie entsprechend hoch gehalten. Noch zögerte er, dann aber deutete er ein Nicken an. »Ja, ich werde sie abnehmen, Sinclair.«
Bei den anderen war es mir egal. Diese Leute wurden sowieso von Suko in Schach gehalten.
Don Crady hob die Arme an. Die Finger umklammerten den Stoff, dann zerrten sie ihn hoch, und er streifte die Kapuze von seinem Gesicht weg. Ich hatte mir um sein Aussehen keine großen Gedanken gemacht, war allerdings überrascht, als ich ihn jetzt sah.
Crady hatte einen kugelrunden Kopf. Auf ihm wuchs kein Haar.
Dichte, dunkle Brauen wollten zu seinem Outfit nicht passen. Der Mund war breit und wurde von dicken Lippen gebildet. Ansonsten war die Haut glatt wie bei einem Baby.
Crady ließ die Kapuze fallen und fragte: »Zufrieden?«
»Ja.«
»Aber was ändert es?«
Keine braunen Augen, dachte ich. Nicht wie mein Vater. Er war normal. Er stand nicht unter dem direkten Einfluß des Königs. Den erlebte nur die Person, die einmal mein Vater gewesen war.
»Und jetzt?« fragte Crady.
»Jetzt werden Sie gehen!« gab ich flüsternd zurück.
»Wieso?« Er war tatsächlich verunsichert, denn er schüttelte den Kopf.
»Sie werden verschwinden. Verlassen Sie die Leichenhalle. Das ist es, was ich will.«
Er nahm mich nicht ernst, denn er produzierte ein prustendes Lachen. »Wollen Sie noch was?«
»Ja, ich bin noch nicht fertig. Ich will, daß sie Ihre Kumpane mitnehmen. Niemand soll hier zurückblieben, außer dieser Gestalt, die einmal mein Vater gewesen ist und mir.«
Plötzlich verlor Crady seine Ruhe. Seine Lippen zuckten. »Mist, was haben Sie vor?«
»Das werden Sie bald sehen.«
»Sagen Sie mir, was…«
»Gehen Sie! Verlassen Sie die Leichenhalle. Sie und die anderen sollen verschwinden. Das ist kein Spaß!« versicherte ich ihm und schaute ihm kalt ins Gesicht. »Es ist wirklich kein Spaß, denn ich könnte mich gezwungen sehen, auf Sie und die anderen zu schießen. Lassen Sie es nicht darauf ankommen.«
»Und Sie bleiben zurück, Sinclair?«
»Ja, und zwar mit meinem Vater. Er und ich werden hier das Finale bestreiten. Ich habe mir vorgenommen, die Totenwache zu halten, und das werde ich durchziehen.«
Don Crady wollte nicht. Aber er schaute direkt in die Mündung meiner Beretta hinein, und da blieb ihm nichts anderes übrig. Jeder, der über etwas Menschenkenntnis verfügte, mußte den entschlossenen Ausdruck in meinen Augen zu deuten wissen.
Sein Widerstand brach. Die Schultern sackten nach unten. Das Gesicht schien sich noch einmal aufblähen zu wollen, da sprangen die Funken der Energie in seine Pupillen hinein, aber sie waren ebenso schnell verloschen. Er nickte mir sogar noch zu.
»Suko?« rief ich.
»Okay, John, ich werde das regeln!«
Don Crady schüttelte den Kopf, als er anfing zu lachen. »Was heißt hier regeln?« rief er mit lauter Stimme. »Hier ist schon alles geregelt, versteht ihr das? Die Regelungen sind getroffen worden. Du wirst nichts ändern können, Sinclair, auch wenn es dein Vater ist. Es wird nur mehr eine zeitliche Verschiebung der Ereignisse geben, das ist alles. Darauf kannst du zählen.«
Ich brauchte nichts mehr zu erwidern, denn der Mann ging tatsächlich. Er gab auch seinen Freunden einen Wink, und ich hoffte, daß Suko die fünf Männer lange genug in Schach halten konnte.
Ich war etwas zurückgetreten und hatte mich am Sarg meiner Mutter aufgebaut.
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