1008 - Endloser Schrecken
zurück, bis ich die erste Bankreihe erreicht hatte. Auf dem harten Holz ließ ich mich nieder. Die Augen hielt ich geöffnet, schaute auch nach vorn, aber die beiden Särge waren wie in einer Nebelwand verschwunden.
Was konnte oder mußte ein Mensch alles aushalten, bis es zum endgültigen Zusammenbruch kam?
Ich wußte es nicht, aber ich blieb auch nicht stumm. Der innere Drang war einfach zu groß. »Es ist mein Gesicht«, flüsterte ich. »Es ist mein Gesicht. Er hat mein Gesicht – o Gott!«
Ich war an Leib und Seele verletzt. Zerstört. Die Fakten folterten meine Psyche.
Den einen Satz wiederholte ich mehrmals. Dabei merkte ich, wie mein Kopf immer tiefer sank. Ich konnte und wollte nicht mehr denken. Die Worte flossen mir automatisch über die Lippen. Wie lange ich in dieser Bankreihe gesessen hatte und von Suko beobachtet worden war, das wußte ich nicht. Irgendwann kam der Zeitpunkt, als ich zur Seite kippte, aber von meinem Freund gehalten wurde.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, schon einmal so hilflos gewesen zu sein. Alles war total durcheinander. Meine Welt, meine Psyche, nichts ging mehr. Nichts würde mehr so sein wie früher. Alles hatte sich in ein grauenvolles Chaos verwandelt.
»Es ist schon gut, Suko«, sagte ich irgendwann. »Es ist schon alles in Ordnung.«
»Nein, das ist es nicht.«
»Doch.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn gesehen. Ich weiß, daß sich Donata nicht geirrt hat und sie auch ehrlich zu mir gewesen ist. Ich rechne ihr das hoch an, aber ich werde auch die Konsequenzen ziehen müssen.«
»Was bedeutet das?«
»Ich werde die Leichenhalle jetzt verlassen.«
»Daran hindert dich niemand. Und was hast du dann vor?«
»Das kann ich dir nicht sagen, da ich es selbst noch nicht weiß. Ich muß nachdenken.«
»Das kann ich verstehen, John.«
Suko stützte mich, als ich aufstand. Auch er wollte nicht länger sitzen bleiben und erhob sich ebenfalls.
»Nein, Suko, laß es. Ich möchte jetzt allein sein. Ich werde – nun ja, ich weiß es nicht, was ich noch tun werde. Es ist mir wohl bewußt, was mir Donata geraten hat, und ich habe es auch nicht vergessen. Dir gegenüber brauche ich es nicht zu wiederholen, aber ich möchte doch allein sein. Ich muß damit fertig werden, obwohl ich weiß, daß mich das Bild verfolgen wird, wohin ich mich auch wende.«
»Und wo willst du hin?« fragte Suko.
Ich hob die Schultern.
»Willst du es nicht sagen?«
»Ich kann es nicht.« Es war meine vorerst letzte Antwort, die ich Suko gegeben hatte, denn ich drehte mich um und schaute nicht mal zurück, als ich auf den Ausgang der Leichenhalle zuging. Ich wollte meinen Vater nicht noch einmal sehen, weil ich damit rechnete, daß mich sein Anblick um den Verstand brachte.
So lief ich schlurfend durch die Halle auf den Ausgang zu. Die Tür zog ich auf. Frische Luft empfing mich und ein zumindest menschenleerer Vorplatz. Die beiden Arbeiter, mit denen Suko gesprochen hatte, waren nicht mehr zu sehen. Sie würden sich um andere Dinge auf dem Friedhof kümmern müssen. Daß sie einen Schock bekommen hatten, konnte ich verstehen.
Ich stieg in den BMW. Der Schlüssel steckte. Auf dem Rücksitz lag das Schwert. In meinen Händen zuckte es. Ich spürte auf einmal den Drang, die Waffe zu nehmen und denselben Weg wieder zurückzugehen. Die Gefühlsaufwallung war so stark, daß ich aufstöhnte und meine Handballen gegen die Stirn preßte.
Nein, nein, nein!
Ich brachte es nicht fertig. Es war unmöglich für mich, die Waffe zu nehmen und meinem toten Vater den Kopf abzuschlagen, auch wenn es mir Donata letztendlich geraten hatte.
Suko erschien in der Tür der Leichenhalle. Er meinte es ja gut, wenn er an meiner Seite bleiben wollte. Aber ich wollte es nicht. Ich konnte ihn zu diesem Zeitpunkt nicht ertragen, auch wenn er ein noch so guter Freund war.
Ich mußte allein bleiben. Nicht hier. Wegfahren. Wieder die Flucht ergreifen, wie schon einmal.
Deshalb startete ich den Wagen. Suko schrak zusammen, als er das Aufheulen des Motors hörte. Er machte auch den Eindruck eines Menschen, der loslaufen wollte, aber ich war schneller.
Steine und Dreck spritzten unter dem Hinterreifen weg, als ich startete. Der BMW schien zu einer Rakete zu werden. Er schoß mit mir davon, als wären die Höllenhunde hinter mir her.
Weg, nur weg…
***
Es kam selten vor, daß Suko fluchte. In dieser Lage blieb ihm nichts anderes übrig. Er fühlte sich von seinem Freund John versetzt, reingelegt, geleimt, und
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