101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
König ein großes Festmahl zu Ehren seines Sohnes zubereiten. Alle Menschen, Beduinen wie Sesshafte, durften daran teilnehmen. Der König befahl eintausend seiner tapfersten Ritter, sich rund um die Wiese aufzustellen und diese zu bewachen. Und dann trat der Königssohn zu dem Mädchen in das Zelt in der Mitte der Wiese. Zuvor hatte er zwanzig Mädchen als Wache in einem Kreis rund um das Zelt Aufstellung nehmen lassen.
Der Königssohn saß also mit dem Mädchen beisammen, aß und trank, bis der Rausch ihn übermannte und er einschlief, ohne sich mit ihr vereinigt zu haben. Er erwachte nicht eher aus seinem Schlummer, als bis das Morgenlicht zu ihm hereinschien. Sogleich suchte er das Mädchen, doch konnte er sie nicht finden. Sie war verschwunden. Er trat aus dem Zelteingang ins Freie und fand dort die zwanzig Mädchen niedergemetzelt liegen. Bei diesem Anblick entfuhr ihm ein entsetzlicher Schrei. Sofort liefen die Ritter, die die Wiese bewachten, um ihn zusammen: «W as ist dir zugestoßen, mein Herr?», erkundigten sie sich, und er berichtete ihnen von den Vorfällen und fragte sie, ob sie irgendjemanden gesehen hätten.
«Nein, bei Gott!», war ihre Antwort. «W ir haben niemanden gesehen, und keiner von uns ist auch nur aus dem Sattel gestiegen.»
Die Nachricht erreichte den König. Der machte sich mit seiner Armee, seinen Männern und tapferen Rittern auf den Weg, um der Sache nachzugehen. Vielleicht würde er ja den Täter aufspüren. Und so schwärmten die Ritter in alle Himmelsrichtungen aus. Bis in die hintersten Winkel des Landes forschten sie, um Neues über den Fall zu erfahren, und fahndeten nach dem Mädchen. Tage später kehrten sie zurück, ohne irgendeine Kunde von dem Mädchen erlangt zu haben. Der Königssohn aber wurde, da er das Mädchen verloren hatte, tieftraurig und bedrückt in seiner Seele. Er konnte es nicht ertragen, von ihr getrennt zu sein, und stimmte die folgenden Verse an :
[ Tawîl ]
«Die Trennung von meiner Liebsten wird mir zu viel,
Die Tränenflut rinnt herab, so reichlich sie will.
Und sterbe ich gleich an Liebe, siehe, es starben schon
Den Liebestod vor mir Urwa einst und Dschamîl.
Ich liege und wache, und kein Morgen graut meiner Nacht.
So lang sind die Nächte der Verliebten, so still.»
Es wird erzählt:
Als sein Vater eines Abends einmal beschäftigt war und nicht auf ihn achtete, nahm er ein edles Pferd, Lanze und Schwert sowie genügend Wegzehrung und machte sich auf, um das Land kreuz und quer zu durchstreifen. All das, ohne dass sein Vater etwas bemerkte.
So ritt der junge Mann immer weiter, bis er ein Flusstal erblickte, reich an Früchten und Bäumen. Er schaute hinüber und sah am anderen Ufer des Flusses ein großes Rundzelt aufgeschlagen. Darauf ging er zu.
«Friede sei mit euch , ihr da im Zelt!», rief er zur Begrüßung . Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hoben sich schon die Zipfel der Zeltwand, und ein Junge von schöner Gestalt und mit hübschem Gesicht trat heraus. Der Junge erwiderte den Gruß, doch hatte er dabei Tränen in den Augen und ein wundes Herz. Die Spuren seines Kummers waren ihm deutlich anzusehen.
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die neunte Nacht
So spricht Faharâyis, der Philosoph:
Und in der folgenden Nacht kam der König, brach das Siegel auf und schlief mit dem Mädchen bis zu der bewussten Zeit.
Da rief Danisad ihr zu: ~ Ach, meine Schwester! Ach, Schahrasad, erzähle doch unserem Herrn, dem König, deine schönen Geschichten!
~ Einverstanden, erwiderte sie. ~ Und so, mein Gebieter, geht die Geschichte weiter:
Als der Königssohn den Jüngling so weinen sah, fragte er ihn: «W as ist dir zugestoßen, mein lieber Junge?»
«Ich bin ein Sohn arabischer Beduinen», entgegnete dieser, «und ich hatte mit meiner Cousine einen Ausflug unternommen. Wir waren hier auf dem Fluss unterwegs. Ich schlief ein, und erst die Sonnenstrahlen weckten mich wieder. Da war meine Cousine spurlos verschwunden. Ich weiß noch immer nicht, wo sie ist. Wurde sie in den Himmel entrückt, oder hat der Erdboden sie verschluckt? Ich weiß es nicht!»
«Das ist wirklich die allerseltsamste Merkwürdigkeit», wunderte sich der Königssohn. «Offenbar ist keine Katastrophe so groß, dass über ihr nicht eine noch größere schwebte.»
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