101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
Worten stieg der Königssohn vom Pferd und wandte sich an den Jüngling: «Hast du Kenntnis darüber, wer hier so etwas tun könnte?»
«Ich kenne einen Ort hier in der Nähe, wo ein wehrhaft befestigtes Schloss steht», antwortete der Jüngling, «das haben die Amalekiter und die byzantinischen Heerführer errichtet. Dort wohnt ein gewaltiger Ritter und kühner Held.»
«Lass uns zusammen dorthin gehen und führe du uns hin», bat der Königssohn . «V ielleicht hat er ja deine Cousine entführt.»
Sie saßen auf und machten sich gemeinsam auf den Weg, bis sie zu dem Schloss gelangten. Es war ein Schloss, das keine Beschreibung je erfassen könnte. Wie sie sich dem Schlosse näherten , hatte sich das Schlosstor gerade geöffnet, und eine schwarze Sklavin trat heraus. «W er seid ihr zwei?», sprach sie sie an.
«Fremde sind wir», gab er zur Antwort, «und wir möchten den Herrn dieses Schlosses besuchen.»
«Steigt ab und lasst euch nieder», forderte sie sie auf.
Damit ging sie zurück ins Schloss und war für eine Weile verschwunden. Dann kam sie mit einem Zelt wieder zu ihnen heraus, schlug es für sie auf, und die beiden übernachteten darin. Am nächsten Morgen suchte der Königssohn den Jüngling. Er fand ihn am Zelteingang mit durchschnittener Kehle.
«Es gibt keine Kraft und keine Stärke außer bei Gott, dem Erhabenen und Mächtigen!», stöhnte er auf , warf sich in seine Rüstung, schwang sich aufs Pferd und ritt vom Zelteingang weg. Er schaute sich um, und siehe da! Soeben hatte sich das Schlosstor aufgetan, und ein Ritter war herausgetreten, in Waffen und Rüstung, genau wie er selbst, und auf einem edlen Pferd. Er ritt auf ihn zu, bis er nahe an den Königssohn herangekommen war, und stürzte sich auf ihn, wie sich ein Adler aus den Wolken herab auf seine Beute stürzt. Die beiden kämpften eine Weile miteinander, dann stieß der Königssohn einen markerschütternden Schrei gegen den Ritter aus und griff ihn heftig an, und der Schlossherr wandte sich zur Flucht. Und nun stürzte sich der Königssohn auf ihn, wie ein Adler sich aus den Wolken herab auf seine Beute stürzt. Er riss ihn aus seinem Sattel und schüttelte ihn so lange, bis ihm der Turban vom Kopf flog. Achtzehn lange Lockensträhnen senkten sich da herab. Als er sah, dass es ein Mädchen war, ließ er sie los und sprach zu ihr : «W er bist du, Mädchen?»
«Ich bin die Herrin dieses Schlosses», entgegnete sie, «und ich bringe die tapfersten Helden zur Strecke. Kein anderer als ich hat den Jüngling getötet und seine Cousine entführt. Und wer bist du, tapferer Ritter? Denn mir ist noch kein stärkerer begegnet als du!»
«Ich bin ein einsamer Wüstenräuber, von meinem Stamm verstoßen», sagte er, «und ich ziehe durchs Land auf der Suche nach etwas, das ich jagen kann.»
«Das glaube ich dir nicht!», widersprach sie . «Du bist ganz bestimmt ein Fürst oder Prinz.» Mit diesen Worten stieg sie wieder auf ihr Pferd und ritt gemeinsam mit dem Königssohn ins Schloss. Dort verbrachte er zehn Tage mit ihr, aß und trank sich satt an den köstlichsten Speisen und Getränken.
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und sie verstummte. Der König aber erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, schloss die Tür ab, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die zehnte Nacht
So spricht Faharâyis, der Philosoph:
Und in der folgenden Nacht kam der König, brach das Siegel auf und schlief mit dem Mädchen bis zu der bewussten Zeit.
Da rief ihre Schwester Danisad ihr zu: ~ Ach, meine Schwester! Ach, Schahrasad, erzähle doch unserem Herrn, dem König, deine schöne Geschichte weiter!
~ Einverstanden, erwiderte sie und fuhr fort zu erzählen:
~ Eines Tages fragte er sie nach seinem Mädchen. «W eißt du irgendetwas über sie?», sprach er sie an. «Ich will sonst nämlich losziehen und in deinem Land nach ihr suchen.»
«So steig aufs Pferd», sagte sie, und er bestieg sein Pferd, ergriff seine Lanze und ritt zum Schlosstor hinaus. Den ganzen Tag lang ritt er umher, bis die mörderischen Strahlen der Sonne ihm zusetzten. Er ritt auf einen Baum zu, stieg ab, band sein Pferd fest und gab sich den Gedanken an seine Familie, seine Heimat und den Verlust des Mädchens hin. Auch dachte er daran, dass er noch immer nicht erreicht hatte, wonach er verlangte. Auf einmal hörte er eine Stimme die Verse singen :
«Jeden Morgen kommt gewiss ein neuer Morgen
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