101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
«und wir bewohnen dieses Wadi. Früher hatte es einem Recken gehört, den man ‹den Schädelspalter› nannte. Doch Gott hat einen Ifrit aus dem Geschlecht der Dschinnen zu ihm geschickt, der hat ihn umgebracht und dieses Tal von ihm erlöst.»
«Kennst du irgendein Gebäude in dieser Gegend?», fragte der Königssohn weiter.
«Nein», war die Antwort, «aber ich kenne ein Gebäude etwas weiter weg. Es ist ein Palast, und man kennt ihn als den ‹Strahlenpalast›. Von hier bis zum Palast sind es fünfzig Meilen. Der Palast wird in einem Umkreis von vierzig Meilen durch eine magische Kraft bewacht. Wenn jemand ahnungslos darauf zugeht, verbrennt ihn die Sonne, sobald sie über ihm aufgegangen ist. So kann keiner in die Nähe kommen, und niemand kennt den Zugang. Es wohnt aber ein Recke dort, einer von den Söhnen des Chidâb ad-Dimâ, der ‹die Farbe des Blutes› genannt wird.»
Es wird erzählt:
Nun ritt der Königssohn einige Tage lang durch die Wüste. Und auf einmal war da ein Mädchen. Sie ritt auf einem Pferd und schüttelte den Staub von ihrem Kopf. «Folge mir», sprach sie ihn an, «und komm mit mir zu einem hohen Berg, der an den Wolken aufgehängt ist!» Mit diesen Worten führte sie ihn in eine Höhle. Dort stieg sie vom Pferd, ebenso der Königssohn. Sie nahm beide Pferde und versteckte sie in einem Winkel der Höhle. Dann ergriff sie mit ihrer Hand die seine. Hand in Hand verschwanden sie in einer Grotte unter der Erde. Von dort ging es hinaus auf ein weites Feld, in dessen Mitte ein Teich lag. Auf dem Teich schwamm ein kleines Boot. Sie stieg hinein, und der Königssohn mit ihr. So brachte sie ihn zu einem Schloss, das keine Beschreibung je erfassen könnte.
Als sie schon nahe an das Schloss herangekommen waren, wandte sich der Königssohn ihr zu. «W ie heißt du?», fragte er .
«Ich heiße Schams ad-Diyâ, ‹die Sonne des Lichts›», entgegnete sie, «und ich bin die Tochter von Chidâb ad-Dimâ. Diesen Palast kennt man als den ‹Strahlenpalast›. Er wird im Umkreis von vierzig Meilen durch magische Kräfte bewacht. Der Palast ist ganz aus Kristall gebaut. Wenn ein Ahnungsloser daherkommt, verbrennt ihn die Sonne, sobald sie über ihm aufgegangen ist, und zwar wegen der gleißenden Strahlung des Kristalls. Die Dschinnen haben den Palast für Sachr, den Sohn des Teufels, errichtet.»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und das Mädchen verstummte. Der König aber erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die dreiundzwanzigste Nacht
Er spricht:
Und in der folgenden Nacht kam der König, brach das Siegel auf und schlief mit dem Mädchen bis zu der bewussten Zeit.
Da rief ihre Schwester Danisad ihr zu: ~ Ach, meine Schwester! Ach, Schahrasad, erzähle doch unserem Herrn, dem König, deine schönen Geschichten!
~ Einverstanden, mein Gebieter , erwiderte sie. ~ Und so geht die Geschichte weiter:
Als sie nahe an den Palast herangekommen waren, nahm sie den Königssohn an der Hand und führte ihn hinein. Sie brachte ihn in ein Gemach, das auf vierzig Marmorsäulen stand und mit verschiedenartigen getupften Brokatstoffen ausgekleidet war. Dann rief sie ein Mädchen herbei. «Bring mir as-Suweida Bint Âmir und ihre Mädchen, die wir im Wadi gefangen haben!», trug sie ihr auf. Und im nächsten Augenblick stand schon die Schwarzhaarige vor ihm. Sie trug ihre schönsten Kleider, desgleichen ihre Mädchen. Alle begrüßten ihn und beglückwünschten ihn zu seiner heilen Ankunft. Er blieb nun einen vollen Monat lang bei ihnen, aß und trank sich satt an den köstlichsten Speisen und Getränken. Chidâb ad-Dimâs Tochter aber trat zu ihrem Vater, tötete ihn und übertrug dem Königssohn die Herrschaft über das Schloss. Sie machte ihm die Stämme untertan und verteilte Geld und Güter. Und er herrschte über Chidâb ad-Dimâs Land und über ein gewaltiges Heer.
Schließlich begab er sich in seines Bruders Land. Sein Bruder kam ihm entgegen und richtete ein großes Fest aus. Kühe, Kamele, Ziegen und Schafe wurden geschlachtet, und Wein floss in Strömen. Er ließ auf seinem Land ein Zeltlager für seinen Bruder aufschlagen und schloss Frieden mit ihm. Auch berichtete er ihm nun, dass es seine Mutter gewesen war, welche die Zwietracht zwischen ihnen gesät hatte, und dass sie in der Zwischenzeit verstorben war. Dhâfir blieb einige Tage bei ihm, daraufhin
Weitere Kostenlose Bücher