1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
einfach nicht so handeln. Das ist unmöglich, verdammt!«
»Warum?« Sie staunte. »Ich stehe hier. Du brauchst nur einen Stein aufzuheben und mich damit erschlagen. Ich verspreche dir, daß ich mich nicht wehren werde.« Sie lachte kurz auf. »Wie auch ohne Hände.«
Di Mestre hatte alles gehört. Er schüttelte den Kopf. »Nein, du bist wahnsinnig. Du kannst nicht normal sein. Das ist einfach nicht möglich. Es ist verrückt!« keuchte er. »So etwas habe ich noch nie gehört. Ich bin kein Mörder.«
Der letzte Satz zwang Jessica einfach zum Lachen. »Kein Mörder?« fragte sie. »Du bist kein Mörder? Hör doch auf, so etwas zu sagen. Vielleicht hast du mit deinen eigenen Händen noch niemanden getötet, aber du hast es auch nicht verhindert. Und du hast Angst vor mir. Ich weiß, daß diese Angst vergehen wird, wenn es mich nicht mehr gibt. Aber mich wird es auch weiterhin noch geben, falls du nicht den Mut aufbringst und mich jetzt auf der Stelle tötest.«
»Nein, nein, das mache ich nicht. Das kann ich einfach nicht. So etwas ist unmöglich. Ich kann dich nicht töten. Geh weg!« schrie er, und das Echo hallte in die Gassen hinein. »Geh endlich weg! Ich will dich nicht mehr sehen…« Seine Stimme sackte ab und wurde zu einem weinerlichen Schluchzen. Dabei senkte er den Kopf wie ein reuiger Sünder, und Jessica schaute auf sein Haar.
Ihr Mund verzog sich. Der Ausdruck deutete an, daß sie nur Verachtung für diese Person übrige hatte, nichts anderes.
»Himmel, was bist du feige! Dann wirst du weiterhin mit der Angst zu leben haben und auch mit der Furcht vor einem Rätsel, das dich und die anderen Bewohner beschäftigt. Ich weiß sehr gut, daß es einen Toten gegeben hat. Mein lieber Gatte lebt nicht mehr«, erklärte sie voller Hohn. »Man hat ihn im Wald gefunden - erwürgt. Niemand weiß, wer ihn getötet hat. Man hat einen Verdacht, aber es gibt keine Beweise. Wie kann ein Mensch ohne Hände jemanden erwürgen, Flavio?«
Di Mestre schaute wieder hoch. In seinem Gesicht arbeitete es. Es zuckten die Mundwinkel, und er suchte verzweifelt nach einem Entkommen aus dieser Lage.
Sie hatte ja recht. Sie hatte so verdammt recht. Romano Malfis Ende hatte alles durcheinandergebracht, und natürlich stellte man sich die Frage, ob seine Frau nicht letztendlich die Mörderin gewesen war.
Aber ohne Hände?
Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht. Ich kann auch nicht. Nein, ich kann es nicht.«
»Oh, du läßt mich am Leben?« fragte Jessica voller Spott. »Wie großzügig von dir.«
»Ich kann nicht töten!«
»Dann wirst du auch weiterhin mit deiner eigenen Furcht leben müssen, mein Lieber. Du und auch die anderen. Eins will ich dir noch sagen. Der Tod meines Mannes war nicht das Ende, sondern der Beginn. Es geht weiter, Flavio, immer weiter. Darauf kannst du dich verlassen, und das solltest du auch den anderen sagen. Dieser Ort wird etwas erleben, was sich die Menschen nicht in ihren kühnsten Träumen ausdenken können. Wir sehen uns wieder, Flavio.«
Er hatte alles verstanden. Nur schaute er erst auf, als er die Schritte hörte. Da sah er Jessica auf sich zukommen, und er sah auch, wie sie den rechten Arm hob, als wollte sie ihn streicheln. Ohne Hände klappte das nicht. So glitt der Stumpf dicht an seinem Gesicht entlang, als sich die Verstümmelte umdrehte.
Sie ging weg.
Es war die Strecke quer über den Marktplatz. Dabei visierte sie eine Gasse an, und sie verschwand in dieser Öffnung zwischen den beiden Mauern.
Bewußt hart trat sie auf, so daß der Zurückgebliebene die Echos der Schritte noch länger hörte.
Flavio stand noch immer auf demselben Fleck. Er fragte sich, ob er nur geträumt hatte oder nicht.
So etwas konnte man nicht träumen, das mußte man schon erleben.
Von Jessica sah er nichts mehr. Aber er wußte Bescheid. Sie hatte etwas versprochen, und sie würde nicht aufgeben. Romano Malfi, ihr Mann, war der erste gewesen. Andere würden folgen, auch das hatte sie versprochen.
Aber wer war als nächster an der Reihe?
Die Antwort fiel Flavio die Mestre nicht schwer. Entweder mußte er sterben oder Cesare Caprio.
Di Mestre stöhnte auf. Er war wieder nüchtern geworden. Doch den Heimweg ging er wie ein Volltrunkener…
***
Wir hätten bis Innsbruck oder Mailand fliegen können, hatten uns dann für Innsbruck entschieden und uns dort einen Leihwagen genommen, einen Audi quattro. Dieses Fahrzeug schien uns für die Berge am geeignetsten zu sein, da keiner von uns wußte, welche
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