1011 - Laurins Totenwelt
überhaupt aufstehen?«
»Probieren geht über studieren.«
»Okay.« Sheila umfaßte mit ihren Fingern Bills schweißfeuchte Hand. Er biß die Zähne zusammen, trotzdem konnte er das Stöhnen nicht vermeiden, aber er kam hoch und blieb stehen, denn den Gaffern wollte Bill kein Schauspiel bieten. Das mußte nicht sein. Und so hielt er sich aufrecht, auf Sheila gestützt, die den Tritt besser weggesteckt hatte.
»Kannst du gehen?«
»Ich weiß es noch nicht«, flüsterte er.
»Aber ich werde wohl müssen. Was sind das nur für Menschen, Sheila? Niemand ist da, der sich um den Mann kümmert. Keiner weiß, ob er tot ist. Selbst der Pfarrer läßt sich nicht blicken.«
»Der steckt mit den anderen unter einer Decke. Hier halten alle zusammen, Bill. Wir werden es nicht einfach haben.«
»Das glaube ich auch.«
»Sollen wir gehen?«
»Ja«, gab er zögernd zu. »Laß es uns versuchen. Laß uns langsam losgehen.«
Mit sehr kleinen Schritten entfernten sich die beiden Conollys von dem frischen Grab. Sheila ging es auch nicht gut, aber Bill schmerzte jede Bewegung. Jeder Schritt wurde für ihn zur Qual, und jedesmal zogen Stiche durch die Leiste. Er wollte den Schmerz nicht zeigen, preßte die Lippen zusammen, aber so mancher Schmerzlaut ließ sich nicht unterdrücken.
Er atmete ein und aus. Er mußte sich wahnsinnig zusammenreißen. Am Körper und an den Beinen schienen Bleigewichte zu hängen, und er traute sich kaum, die Füße normal aufzusetzen.
Zum Glück war Sheila als Stütze da. Sie half ihm viel. Wäre sie nicht gewesen, er wäre längst gefallen. So aber hielt er durch, und er merkte auch, daß es ihm allmählich besserging. Zwar kaum meßbar, aber immerhin ein wenig Fortschritt war vorhanden.
»Und die stehen da wie die Ölgötzen!« flüsterte er mit rauher Stimme. »Wie die Puppen. Das pack ich nicht. Das will nicht in meinen Kopf. Verdammt!«
»Ruhig, Bill, ruhig – bitte!«
»Das sagst du so leicht.«
»Ja, ich weiß, es ist schlimm, aber was sollen wir machen?«
»Sie hätten sich um den Mann kümmern müssen.« Er verstummte, da ihn das Reden doch anstrengte.
Angesprochen wurden sie nicht, auch nicht aufgehalten, und so konnten sie den Weg bis zu ihrem Ziel gehen, wo der dunkel gekleidete Mann verkrümmt und mit angezogenen Beinen auf dem Rücken lag.
Er war tot!
John hatte alles gegeben, um ihn zu retten, es aber letztendlich nicht geschafft. Bill brauchte nur in seine gebrochenen Augen zu sehen, um das Ableben feststellen zu können. Die verdammten Killerhände hatten seinen Hals blutig gewürgt. Der Mund des Mannes stand offen, als wäre ihm ein letzter Schrei nicht mehr gelungen.
»Vergebens«, flüsterte Sheila. »Johns Einsatz ist vergebens gewesen.«
»Sicher.« Bill nickte. »Und nicht einer dieser tollen Trauergäste hat ihm geholfen. Sie hätten es gemeinsam schaffen können, davon bin ich überzeugt, aber sie taten nichts. Welch eine Gesellschaft ist das hier? Was gibt das hier nur für einen Zusammenhalt?«
»Du solltest die Menschen nicht zu früh verurteilen, Bill. Sie haben Angst. Sie alle haben Angst. Das ist das Band, das sie zusammenschweißt, nichts anderes. Schau sie dir doch an, die starren Gesichter, aber sieh dann in die Augen, und du wirst erkennen, daß die Angst sie starr gemacht hat.«
»Ja, so scheint es wohl gewesen zu sein. Aber wer durchbricht diesen Panzer?«
»Wir?«
Der Reporter verzog den Mund, denn wieder war ein Schmerzstoß durch seinen Unterleib gerast. »Klar, wir und John.«
»Und wo fangen wir an?«
Er hob die Schultern und schwieg sich aus.
Sheila ließ ihre Blicke schweifen. Sie senkte ihre Augen nicht, als sie Trauergäste direkt anblickte. Jeder sollte sehen, daß er von ihr aufs Korn genommen wurde. Doch keiner von ihnen zeigte eine Regung. Sie sah nicht mal ein Nicken, sie sah auch keine Frage in den Blicken. Es war keiner da, der auf sie einging, und allmählich kochte die Wut über.
»Wollt ihr nicht den Toten wegschaffen?« fuhr sie die Wartenden an. »Oder soll er hier auf eurem verdammten Friedhof liegen blieben – als Warnung für alle?«
Schweigen.
Sheila lachte bitter. »Ja, das habe ich mir gedacht. Ihr schweigt. Ihr habt Angst. Nur nichts tun, was man im Nachhinein bereuen könnte. Nur das nicht. Lieber das Maul halten. Nichts sagen, auch nichts fragen. Vor allen Dingen nichts nachfragen- oder? Nur nicht herauszubekommen versuchen, was euch da begegnet ist. Ich könnte…«
»Laß es«, sprach Bill dazwischen. »Du
Weitere Kostenlose Bücher