1011 - Laurins Totenwelt
waren sie zu schwach und undeutlich, um Genaues erkennen zu können. Gestalten, eine Szene, wie auch immer. Für mich war es wechselhaftes Farbenspiel, wobei die Blautöne nicht verschwanden.
»Jessica?«
Sie gab keine Antwort auf mein Flüstern, weil sie allein bleiben wollte. Die handlosen Arme hingen wie zwei Stöcke von ihrem Körper herab, und sie bewegen sich auch nicht. Sie schaukelten erst dann, als Jessica nach vorn ging. Ihr Ziel war dabei die Wand, was ich noch nicht verstand, aber ich war auch nicht sie. Ohne Grund bewegte sie sich bestimmt nicht darauf zu.
Sollte ich ihr folgen?
Ja, ich ging hinter ihr her. Aber ich hatte mich entschlossen, ihr keine Steine in den Weg zu legen. Ich würde sie gehen lassen. Es war besser so, denn sie war einzig und allein auf Laurins Totenwelt fixiert, und ich ging davon aus, daß sie sich dort glücklich fühlte und nicht mehr in der normalen Welt.
Man wartete auf sie. Jetzt war die Grenze tatsächlich zu einem Vorhang geworden, denn die Farben bewegten sich stärker. Sie waren auch getrennt, und bei ihren Bewegungen liefen sie ineinander über. Das allerdings passierte nur vordergründig, denn die Grenze hatte sich sogar mir gegenüber geöffnet.
Es gab tatsächlich einen Hintergrund. Auch wenn er perspektivisch weit wie eine gemalte Filmkulisse wirkte, so glaubte ich doch, daß diese Tiefe auch in der Realität dieser anderen Sphäre vorhanden war.
Ich kannte mich da aus, denn oft genug hatte ich selbst die Grenzen überschritten und war in diesen anderen und nicht begreifbaren Welten gelandet..
Etwa drei Schritte Abstand waren zwischen Jessica und mir. Ich holte auch nicht auf, sondern ließ sie gehen.
Aber sie wollte noch Abschied nehmen.
Vor der Grenze hielt sie an. Dann drehte sie sich halb um, so daß sie mich anschauen konnte.
»Hast du es dir noch einmal überlegt?« fragte ich.
»Ja. Aber ich bleibe dabei.«
»Gut.« Ich nickte ihr zu.
Darüber wunderte sie sich. »Du triffst keine Anstalten, um mich zurückzuhalten?«
»Nein, du kannst gehen.«
»Warum denn?«
»Geh zu den Toten. Geh zu Laurin. Ich denke mir, daß es am besten für dich ist. Die normale Welt wäre nichts mehr. Aber du wirst nicht wissen, welches Schicksal dich erwartet, Jessica?«
Sie lächelte. Ihre Augen glänzten, als hätte sie etwas Wunderbares gesehen. »Doch, ich weiß es. Laurin hat es mir gesagt. Ich werde in seinen steinernen Rosengarten gehen und für alle Zeiten mit der Natur verbunden sein. Ich werde mich irgendwann verändern, aber jeder, der mich findet und dabei genau hinschaut, wird erkennen können, wer sich da in Laurins Reich aufhält. Ich habe keine Angst vor dem Sterben, denn es wird für mich eine neue Existenz geben.«
»Möglich«, sagte ich nur.
»Schau an mir vorbei. Dann kannst du erkennen, daß sie bereits auf mich warten.«
Ich folgte ihrem Rat und sah sofort, daß sich Jessica nicht geirrt hatte.
Innerhalb der Wand wartete man tatsächlich auf sie. Laurin hatte seine Boten geschickt. Die kleinen Gestalten, die toten und wie versteinert wirkenden Körper der Zwerge standen umhüllt vom blauen Licht und streckten Jessica ihre Arme entgegen. Sie wollten sie auf ihre Art begrüßen.
Jessica lächelte selig. »Eine Frage habe ich dann noch«, flüsterte sie mir zu.
»Bitte.«
»Ich weiß nicht einmal deinen Namen.«
»John - John Sinclair«, sagte ich.
Sie nickte. »Sehr schön, John.« Dann lächelte sie mich kokett an.
»Ich denke schon, daß du mir gefallen hättest.«
»Du mir auch. Aber dazu ist es wohl zu spät.«
»Ja«, murmelte sie, »zu spät.« Sie hob die Schultern. Aber ein weiteres Wort des Bedauern fügte sie nicht hinzu. Dafür drehte sie sich um und ging den letzten Rest, den sie noch zurückzulegen hatte.
Die Zwerge warteten. Sie bewegten ihre Hände. Sie hatten sicherlich schon Kontakt mit Jessica aufgenommen, und ich blieb dort stehen, wo ich stand.
Jessica hatte die Wand erreicht. Sie war für die Frau so gut wie nicht vorhanden, denn mit einem langen Schritt trat sie in die blaue Totenwelt Laurins hinein.
Diesmal drehte sie sich nicht um. Die Zwerge hatten ihr Platz geschaffen. Zwischen ihnen blieb sie stehen, bückte sich leicht, als wollte sie die kleinen Wesen begrüßen.
Dann ging sie weiter.
Ich schaute ihr nach.
Schritt für Schritt tauchte sie ein in das blaue Dunkel dieser geheimnisvollen Welt, um irgendwann einmal ihren Traum erfüllt zu bekommen. Einen Platz im steinernen Rosengarten.
Ich wartete so
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