1013 - Der Blut-Abt
durfte.
Hier oben wuchsen Kiefern und kleine Buchen. Deren Stämme schimmerten an manchen Stellen bleich wie altes Gebein. Sie standen im krassen Unterschied zu den kantigen Felsen und der dunklen Erde, die überall klebte.
Der leicht bergab führende Weg verengte sich noch mehr. Titus kannte die Stelle. Sie wirkte wie ein Durchschlupf, wie ein Felsentor.
Titus erschrak.
Er war relativ schnell gelaufen und hatte Mühe, nicht zu stolpern.
Plötzlich sah er eine Gestalt, die genau in der Mitte dieses angedeuteten Tores stand.
Ein Mensch?
In seinem Kopf schrillte es. Titus war durcheinander. Er wußte, daß es kein Mensch war, auch wenn er so aussah. Denn diese Gestalt mußte seit mehr als hundert Jahren tot sein.
Sie hatte einmal zum Kloster St. Patrick gehört und ihm sogar als Abt vorgestanden. Sie hätte, wie gesagt, längst tot sein müssen, aber sie war es nicht.
Das wußte Titus sehr genau. Nicht grundlos hatte er in der Krypta zusammen mit Bruder Basil vor dem leeren Sarg gestanden.
Es gab für ihn nicht den geringsten Zweifel mehr. Vor ihm stand der tote Bruder Josh, der das Kloster einmal als Abt geleitet hatte!
***
Bruder Titus wußte nicht, was er denken sollte oder ob er überhaupt noch denken konnte. Er bewegte sich auch nicht und war ebenso erstarrt wie auch Josh.
Seltsamerweise verspürte er keine Angst, wo er jetzt das Ziel erreicht hatte. Er sah die Gestalt nicht als normal an, aber er hatte sie akzeptiert. Ihm kam auch nicht der Gedanke, sich umzudrehen und wegzurennen. Er blieb auf der Stelle stehen und starrte den anderen einfach nur an.
Trotz der Dunkelheit wunderte sich Titus darüber, wie deutlich er den anderen sah. Als wäre die Gestalt von innen erleuchtet, was natürlich nicht stimmte.
Josh war groß, sogar sehr groß. Dunkel gekleidet. Ein langer Mantel oder eine Pelerine bedeckte seine Gestalt. Den Schalkragen hatte er hochgestellt, so daß er über die Ohren hinwegreichte. Auf ihnen lagen die Ränder des schlohweißen Haars, das auf dem Kopf wuchs wie eine Perücke. Das Haar war in der Mitte exakt gescheitelt und fiel zu beiden Seiten hin gleich weit nach unten.
Eine hohe Stirn. Schlohweiße Augenbrauen. Eine leicht gekrümmte Nase mit großen Nasenlöchern. Darunter bedeckte der ebenfalls grauweiße Bart die Oberlippe. Der Mund war noch geschlossen und nicht mal zu einem Lächeln verzogen, um den Ankömmling willkommen zu heißen.
Titus wußte, daß es kein Entkommen gab. Er kam an dieser Gestalt nicht vorbei, und er fragte sich, ob sie in der Lage war, mit ihm zu reden. Konnte einer, der schon seit mehr als hundert Jahren tot sein mußte, überhaupt sprechen?
Titus hätte es gern gewußt, nur traute er sich nicht, die entsprechende Frage zu stellen.
Auch Josh bewegte sich nicht. Er wartete ab. Er war wie ein Berg, eine menschliche Mauer, an der niemand vorbeikam. Je länger Titus ihn anschaute, um so mehr verdichtete sich der Eindruck bei ihm, daß von dieser Gestalt ein düsteres Leuchten oder eine gewisse Aura abging, mit der Titus nicht zurechtkam. Sie flößte ihm sogar Angst ein, stärker als der Anblick des Mannes selbst.
Wie hatte man ihn genannt?
Rasputin als Spitznamen, wegen seines langen, schwarzen Haars, das nun seine Farbe verloren hatte. Aber er hatte auch einen zweiten Spitznamen gehabt. Hexenmeister!
Und der traf eher auf ihn zu, wie Titus feststellte. Ein Hexenmeister, einer, der sich auskannte in den rätselhaften Geheimwissenschaften und in der Schwarzen Magie. Jemand, der zauberte, verhexte und andere in seinen Bann zog.
Auch ihn.
Titus hatte sich noch immer nicht bewegt und sich einzig und allein seinen Gedanken hingegeben. Eiskalte Schauer liefen über seinen Rücken. Mit seinen jetzt übersensibilisierten Sinnen nahm er plötzlich Geräusche in der Umgebung wahr, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren.
Versteckt hinter Felsen oder Mulden bewegten sich irgendwelche Wesen. Er sah sie nicht, er hörte sie nur. Mal ein Tappen wie von Tierpfoten, dann ein geheimnisvoll klingendes Rascheln, wenn die Körper irgendwelche Blätter berührten, und Titus achtete auch auf die Veränderung der Laute, denn sie wanderten und schlossen um ihn herum einen Kreis. Sie waren jetzt überall. An der Seite, vor und auch hinter ihm, so daß er in einer Falle steckte.
Vor ihm aber stand der Hexenmeister! Für Titus war er es. Er wollte an den normalen Namen nicht mehr denken und konnte sich auch nicht vorstellen, daß diese Person einmal über ein Kloster bestimmt
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