1015 - Henkeraugen
noch?
***
Jane Collins schwieg. Sie war einfach zu überrascht, um einen Kommentar abgeben zu können. Seltsamerweise fühlte sie sich nicht von Eugen auf den Arm genommen oder belogen. Sie glaubte daran, daß er die Wahrheit gesagt hatte und nun ebenso überrascht war wie sie.
Ein leeres Bild. Nur Leinwand. Grau und leicht rissig. Das war sogar bei diesem Licht zu erkennen. Sie merkte, wie sich in ihrem Mund ein schaler Geschmack ausbreitete. Gleichzeitig stieg die Hitze in ihr Gesicht hoch, das sie nur mühsam dem Jungen zudrehte.
»Hast du das gewußt, Eugen?«
Der Junge hob nur die Schultern.
Die Antwort gefiel ihr nicht. Jane wiederholte sie. Diesmal schärfer. »Ob du das gewußt hast?«
»Nein, nicht direkt.«
Sie mußte einfach lachen. »Nicht direkt. Ich frage mich, wie es möglich ist, daß gemalte Personen so einfach verschwinden können. Diese Leinwand ist nicht beschädigt, man hat die Gestalt des Henkers auch nicht aus ihr herausgeschnitten, und ich stehe wirklich vor einem Problem. Ebenso wie du.«
»Er hat so traurige Augen gehabt«, flüsterte der Junge. »Er muß sehr gelitten haben.«
»Warum?«
Eugen sprach ins Leere hinein und schien mit seinen Gedanken in der Vergangenheit zu sein. »Man hat ihn niemals akzeptiert. Er ist immer verstoßen worden. Er war das Schwarze Schaf in der Familie. Was ist schon ein Henker? Ein Henker ist ein Mörder. Einer, der Menschen für Geld tötet. Man hat ihn benutzt, man hat ihm seinen Lohn gegeben, aber niemand hat sich dafür interessiert, wie es wirklich in ihm ausgesehen hat. Auch ein Henker besitzt eine Seele, und Rodney Chesterton ist sicherlich sensibel gewesen.«
»O ja«, sagte Jane. »Deshalb hat er ja auch das Bild verlassen, nicht wahr?«
»So ungefähr.«
Die Antwort bewies der Detektivin, daß Eugen diese Absonderlichkeit akzeptierte, aber sie hatte etwas dagegen. »Wie kann eine gemalte Person aus dem Rahmen steigen und dafür sorgen, daß ein Bild kein Bild mehr ist? Und wie ist es möglich, daß ich auf der Herfahrt das Henkerbeil sah, in dessen Klinge die Augen des Mannes schimmerten? Kannst du mir das erklären?«
»Nein.«
»Aber du akzeptierst es?«
»Das muß ich wohl. Die Leinwand ist leer. Ich habe keine Angst vor ihm. Ich wußte seit langem, daß etwas passieren würde. Ich habe oft vor seinem Bild gestanden und in die dunklen und so traurigen Henkeraugen gesehen. Er hat wahnsinnig gelitten. Ein Arzt hat mal zu mir gesagt, daß ich etwas aufarbeiten müßte. Ich weiß auch, was das ist, aber ich glaube, daß Rodney etwas aufarbeiten muß. Er ebenso wie ich. Und wir sind uns da wohl sehr gleich.«
»Tatsache bleibt, daß er verschwunden ist.«
Der Junge lächelte.
»Freut es dich?«
»Auf eine gewisse Weise schon. Ich gönne es ihm, daß er mit seinem Schicksal fertig wird.«
»Aber du hast nicht vergessen, was er mal gewesen ist. Ein Henker, Eugen.«
»Damals gab es sie noch.«
»Das weiß ich auch. Aber nicht jeder Henker, der auf einem Gemälde verewigt ist, kann es verlassen. Ich bekomme allmählich Zweifel, ob Rodney überhaupt als gemalte Person auf dieser Leinwand zu sehen gewesen ist.«
»Als was dann?«
»Sorry, Eugen, aber das werde ich noch herausfinden müssen. Vielleicht gelingt es mir in den folgenden Stunden. Man kann ja nie wissen. Jedenfalls liegt eine lange Nacht vor uns.«
»Sie wollen das Haus nicht verlassen.«
»Stimmt, Eugen.«
»Dann haben Sie keine Angst?«
»Die habe ich schon. Nur hat es keinen Sinn, wenn ich weglaufe. Außerdem bin ich für dich verantwortlich. Das habe ich auch deinen Eltern versprochen.«
»Ich komme zurecht, Miß Collins.« Der Junge reckte sich. »Ich weiß genau, daß mir der Henker nichts tun wird. Ja, das weiß ich sehr gut. Ich habe ihn angeschaut. Ich habe erlebt, daß er leidet, und ich habe mit ihm gelitten. Ich spürte, wie schwer er es hatte, und ich wollte, daß es vorbeiging. Alle anderen haben sich nicht um ihn gekümmert, und wenn sie es taten, dann sprachen sie nur verächtlich und auch voller Haß über ihn. Ich aber wußte, daß er mehr war als ein Bild auf der Leinwand und von einem Rahmen umgeben. Er hat eine Seele gehabt. Er steckte voller Gefühle. Er war wie ein Mensch. Ich habe ihn verstanden. Ich konnte in ihn eintauchen, und vielleicht habe ich ihn sogar aus diesem Bild befreien können.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Jane.
»Ich habe es mir so sehnlich gewünscht. Ich wollte es einfach. Nichts anderes sollte geschehen. Rodney
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