1016 - Der Narr aus Venedig
verloren.«
Umberto lachte und strich dabei über seinen kahlen Kopf. Er war schon älter, und der Oberlippenbart war grau. »Nehmen Sie es nicht so tragisch, Signora.«
»Was soll ich nicht tragisch nehmen?«
»Sie haben Sorgen.«
»Sieht man das?«
»Ja.«
»Das stimmt auch.«
»Kann ich Ihnen helfen, Signora? Ich tue es gern. Sie wissen, daß Sie sich auf mich verlassen können und…«
»Alles klar, Umberto. Ich kann mich auf Sie verlassen, und das werde ich nicht vergessen. Jetzt machen Sie erst mal Pause. Wir sehen uns dann heute abend.«
»Ja, bist später.«
Der Koch ging, und Angela blieb allein zurück. Sehr nachdenklich stand sie in ihrem Restaurant. Ihr Blick war ins Leere gerichtet. Plötzlich fiel ihr wieder die Stille auf. Sie war normal, wenn kein Gast am Tisch saß. Nur kam sie ihr heute so bedrückend vor, als wäre sie nicht normal, sondern künstlich. Sie lastete auf ihr und hielt sie von allen Seiten fest.
Angela wollte den Druck aus dem Magen wegbekommen. Deshalb trat sie hinter die Theke, wo die Flaschen im Regal standen. Sie suchte sich einen Kräuterlikör aus, drehte den Verschluß der Flasche auf und goß ein Glas voll.
Das Zeug schmeckte bitter, aber es tat ihr gut, und sie holt tief Luft, nachdem sie es getrunken hatte.
Dabei versuchte sie auch, sich Mut zu machen. Auch wenn sie John Sinclair nicht sah, wußte sie, daß er sich noch im Haus aufhielt, und das wiederum sollte sie beruhigen.
Angela ging in die Küche. Sie war sauber, sehr aufgeräumt. Nichts wies darauf hin, daß Umberto hier schon vorgearbeitet hatte. Durch das Fenster mit dem Gitter konnte sie auf die Hinterseite des Restaurants sehen.
Ein verwilderter Garten breitete sich dort aus, der zur Frühlingszeit nicht so trübe aussah. Blumen schauten aus dem Gras und dem Unkraut hervor, und sie fragte sich, woher die Lupinen wohl gekommen waren, deren weiches Violett durch das helle und frische Grün schimmerten.
Es war auch weiterhin still, sehr still.
Die Frau hörte jedes Geräusch.
Auch das Läuten!
***
Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Sie dachte an die Nacht an das Blut, an all den Schrecken, und sie dachte auch an ihre Panik.
Die überkam sie im Moment nicht. Sie blieb auf dem Fleck stehen, als wäre sie dort angeklebt worden. Nur ihren eigenen Herzschlag spürte sie überlaut und ebenfalls die Echos im Kopf. Angela wünschte sich, einem Irrtum zum Opfer gefallen zu sein, aber das verdammte Klingeln ertönte erneut.
Vor ihr, über ihr, auch hinter ihr und an den Seiten.
Die Frau drehte sich auf der Stelle. Sie suchte das Instrument, das den Klang abgegeben hatte, aber sie konnte nichts finden, denn in der Küche war es leer.
Niemand außer ihr befand sich in dem Raum, aber das verdammte Geräusch blieb. Es nahm nicht ab, es bewegte sich in ihrer näheren Umgebung, es drang in ihre Ohren und hallte in ihrem Kopf wider.
Sie stöhnte auf. Gleichzeitig suchte sie nach Worten. »Wo bist du?« keuchte sie. »Wo bist du denn, verdammt noch mal? Zeig dich! Ich will dich sehen. Du bist der Killer, der Mörder, aber so…?«
Das Klingeln verändert sich. Es wurde lauter, wilder, als hätte eine unsichtbare Hand die Schelle in ihrer Nähe heftig geschüttelt.
»Wo bist du?« Der Satz brach als Schrei aus ihrem Mund hervor. »Verdammt noch mal, wo bist du? Zeig dich, Killer!«
Der Killer zeigte sich nicht.
Nur das Klingeln blieb.
Dicht vor ihrem Gesicht. Noch dichter, so dicht, daß sie sogar zurückgetrieben wurde.
Sie ging rückwärts, und ihre Beine kamen ihr vor, als würden sie durch einen Automaten gesteuert.
Mit dem Rücken stieß sie gegen den Herd, kam nicht mehr weiter, schlug mit beiden Händen nach vorn, traf allerdings nichts, sondern wischte nur durch die Luft.
Das Klingeln aber verschwand. Es zog sich langsam zurück und wurde dabei immer leiser.
Für Angela war es kein Klingeln oder Schellen mehr. Sie dachte mehr an ein teuflisches Gelächter…
***
Ich war die Treppe bis zur zweiten Etage hochgestiegen und stand nun vor der Wohnungstür. Sie unterschied sich in nichts von der Tür, die ein Stockwerk tiefer lag. Ich erinnerte mich daran, daß sie angeblich nicht verschlossen war.
Zunächst einmal wunderte ich mich darüber, daß die Klinke nicht den gleichen Staubüberzug zeigte wie das Holz der Tür. Das Metall schimmerte blank, als wäre es noch in der letzten Zeit von einer Hand angefaßt worden.
Hier oben wohnte niemand. Wer also konnte ein Interesse daran haben,
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