1016 - Der Narr aus Venedig
immer Dinge und Zwischenfälle im Leben eines Menschen, für die man bezahlen muß, denke ich. Nichts passiert ohne Grund. Alle Erlebnisse gehören irgendwo zur Existenz des Menschen. Das sehe ich so, und da mache ich auch keine Ausnahme, das muß ich Ihnen sagen.«
»Schön. Für mich, Angela, hört es sich so an, als wüßten Sie mehr darüber.«
Sie lachte auf und schüttelte dabei den Kopf. »Ich wollte, ich wüßte es wirklich, John. Ja, das wäre wunderbar, aber damit kann ich nicht dienen.«
»Das Klingeln existierte. Da sind wir uns einig - oder?«
»Sicher.«
»Gut, Angela, ich habe Ihnen nicht alles erzählt. Ich hörte diese seltsame Musik, aber ich habe auch etwas gesehen, und darüber denke ich schon nach.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Eine Gestalt.«
»Bitte?«
»Ja, ich sah eine Gestalt. Einen seltsamen Menschen, der nicht in diese Zeit hineinpaßte. Es war ein Narr, ein Clown, zudem durch einen Buckel verunstaltet, und der Narr trug eine rote Mütze, mit einigen nach unten hängenden Zipfeln, an deren Enden die goldenen Glöckchen befestigt waren, die bei jeder Bewegung klingelten. Ich weiß jetzt, woher das Geräusch stammte, das wir beide gehört haben. Aber das war nicht alles. Dieser ungewöhnlich gekleidete Narr war bewaffnet. Er hielt den Griff eines Dolches mit langer Klinge umklammert, und ich sah auch das Blut am Metall. Sie können sich denken, was das zu bedeuten hat.«
»Ja, das kann ich«, flüsterte die Frau. »Ich brauche mich nur an die beiden Kater zu erinnern.«
»Eben.«
Sie schwieg.
»Dann habe ich den Mörder gesehen, Angela. Diese Tatsache hätte mich nicht einmal aus der Fassung gebracht. Es war etwas anderes, über das ich nachdenken muß. Bei diesem Narren möchte ich nicht von einem normalen Menschen sprechen. Für mich ist er eine Erscheinung gewesen. Er kam lautlos, er verschwand auch ebenso. Er war kein richtiger Mensch, aber auch kein richtiger Geist. Er lebte irgendwo dazwischen, und er konnte auch sprechen, denn er nahm mit mir Kontakt auf. Ob Sie es glauben oder nicht, er sprach mich an, und es waren zweimal die gleichen Sätze. Rache für meinen Tod. Mehr sagte er nicht. Keine Erklärung. Nur zweimal diesen einen Satz.«
Ich hatte bei meinen Worten die Frau nicht aus den Augen gelassen und mir fiel auf, daß sie nervös geworden war. Sie nagte an der Unterlippe, der Blick war unstet geworden. Sie wußte nicht mehr, wohin sie noch schauen sollte.
»Das ist… das ist… na ja, ich begreife es nicht, was Sie da gesehen haben. Einen Geist?«
»Nicht direkt.«
»Glauben Sie denn an Geister?«
»Das kann ich nicht so genau sagen, Angela. In diesem Fall muß ich mich damit abfinden.«
»Als Polizist?«
»Das hat damit nichts zu tun, Angela. Ich bin Polizist und Mensch zugleich.«
»Das sind wir alle.«
»Aber ich habe mich nicht geirrt. Es gab das Klingeln der kleinen Glocken, und es gab auch die Gestalt des Narren. Ich gehe jetzt einen Schritt weiter. Ich bin davon überzeugt, daß Sie ihn ebenfalls schon gesehen haben und auch mit seinem Ausspruch ›Rache für meinen Tod‹ etwas anfangen können.«
Es waren keine Vorwürfe, sondern Fakten, die ich Angela Morinelli erklärte hatte, und sie bekam auch die nötige Zeit, um nachzudenken und sich eine Antwort zurechtzulegen. Ich glaubte fest daran, daß sie nicht log und wurde auch nicht enttäuscht, denn sie deutete die Antwort durch ein Nicken an.
»Es stimmt, John, ich kenne ihn.«
»Sehr gut.«
Meine Erwiderung reizte sie zu einem Lachen. »Ob das gut ist, weiß ich nicht, aber er ist mir nicht unbekannt, wie ich Ihnen schon sagte.«
»Gibt es einen Namen für ihn?«
»Er heißt Serafin.«
Ich hob die Schultern. »Bedaure, aber der ist mir unbekannt.«
»Klar, das dachte ich mir. Wer kennt schon den Namen Serafin, abgesehen von einigen Eingeweihten.«
»Zu denen Sie gehören?«
»Das kann man sagen.«
»Und für Sie sind auch seine Worte nicht so fremd, die ich gehört habe?«
Da wiegte sie den Kopf. »Das weiß ich nicht genau, John. Fremd ist auch nicht der richtige Ausdruck. Ich würde es als unheimlich ansehen. Ja, es ist unheimlich. Alles ist auf eine gewisse Art und Weise schrecklich, unheimlich und unerklärlich. Davon müssen wir einfach ausgehen. Ich stecke in einer schrecklichen Zwickmühle. Ich habe sogar das Gefühl, mein Leben ist vorbei.«
»Wie kommen Sie dazu, so zu denken?«
Angela atmete gequält aus. Sie wühlte mit beiden Händen ihre blonden Haare in die Höhe,
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