1017 - Auf den Spuren der Bruderschaft
Stunden.
Sechzehn Stunden Dunkelheit gaben den Nachtbummlern ausreichend Zeit für ihre Tätigkeit. Surfo machte sich an einen nicht mehr ganz nüchternen Kranen heran, streckte den Arm aus, wobei er darauf achtete, daß die Hand unter dem weiten Ärmel verborgen blieb, und murmelte: „Eine kleine Spende, bitte, mein Freund."
Der Krane fuhr herum und starrte ihn an. Surfo merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. „Was - und nicht einmal beten willst du dafür mehr?" donnerte die Stimme des Angeheiterten. „Ihr Gelichter werdet immer unverschämter. Paß auf, hier hast du, was dir gehört!"
Er drang auf Surfo ein. Surfo erinnerte sich an die Szene, die er vor einer halben Stunde beobachtet hatte. Das Dasein eines Bettlers war nicht immer ohne Gefahr. Er nahm Reißaus. Der Krane setzte hinter ihm her, aber schon nach ein paar Schritten machte ihm die Sache keinen Spaß mehr.
Surfo entfernte sich ein paar Dutzend Schritte weit von der Szene seines ersten, fehlgeschlagenen Versuchs. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, wie der Ai ihn angesprochen hatte. „Bedarfst du der Dienste eines Bußbruders?" Der erzürnte Krane hatte vom Beten gesprochen. Das Gewerbe der Schwarzvermummten war offenbar ein ganz anderes, als er bisher angenommen hatte. Er mußte noch eine Menge lernen, bevor er die Rolle des Ai spielen konnte.
Er kam an einer Kneipe vorbei, die nach außen offen war. Zwischen Säulen hindurch sah er Reihen von Sitzmatten und niedrige Tische. Die Kundschaft bestand zum größten Teil aus Prodheimer-Fenken. Surfo suchte sich einen unbesetzten Tisch und ließ sich daran nieder. Niemand schien ihn zu beachten. Er studierte den kleinen Wählautomaten, traf seine Wahl und schob eine der erbeuteten Münzen in den Schlitz. Wenige Minuten später eilte ein diensteifriger Prodheimer-Fenke herbei, ein Wesen mit hellblauem Pelz und der Gestalt eines zu groß gewachsenen Eichhörnchens, und stellte wortlos einen Becher vor ihn hin. Während Surfo an seinem Getränk nippte, spürte er neben sich Bewegung. Er sah auf und bemerkte, daß ein Gast sich neben ihm niedergelassen hatte, ebenfalls ein Prodheimer-Fenke. Er wirkte bekümmerte und musterte den Vermummten aufmerksam, aber nicht unfreundlich.
„Ein hartes Leben für Bußbrüder, wenn ihr euch jetzt schon in den Kneipen umsehen müßt", sagte er.
Surfo wiegte den Kopf.
„Die Götter geben, und die Götter nehmen", antwortete er und versuchte dabei, den Akzent des Ai nachzuahmen. „Wir aber leben und beklagen uns nicht."
„Ich bewundere deinen Gleichmut", sagte der Prodheimer-Fenke. Er klang, als meine er es ehrlich. Er wählte ein Getränk. Der Blaupelz, der ihn bediente, musterte ihn mit eigentümlichem Blick. „Ich bin Virlirey", sagte er, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte. „Willst du meine Sünde auf dich nehmen?"
Surfo wurde allmählich warm unter dem Skalp. Anderer Wesen Sünden auf sich zu nehmen war offenbar etwas, was Bußbrüder von Berufs wegen taten. Aber wie wurde die Verhandlung abgewickelt? Wie kam ein Übereinkommen zwischen dem Bußbedürftigen und dem Bußbruder zustande? Surfo war nicht prüde, aber es widerstrebte ihm, das religiöse Empfinden eines anderen für seine Zwecke zu mißbrauchen - wie immer seine Religion auch beschaffen sein mochte.
„Dazu bin ich hier", murmelte er voller Unbehagen.
„Du verrichtest die vorgeschriebene Zahl von Waschungen?"
„Wie sie der Schwere deiner Sünde entsprechen", antwortete Surfo, ohne zu wissen, was er sagte.
„Ja, ja, das ist natürlich richtig. Hier, nimm das."
Der Prodheimer-Fenke schob ihm einen kleinen Stapel Münzen hin. Sie bestanden aus dünnen, kreisförmigen Kristallscheiben von verschiedenen Farben. Surfo kannte ihren Wert nicht, aber von solchen, wie sie jetzt vor ihm lagen, hatte er in den Taschen des Ai keine einzige gefunden.
„Du mußt sehr bedrückt sein", sagte er vorsichtig.
„Geld spielt keine Rolle", antwortete Virlirey. „Obwohl gerade die Habsucht mein Vergehen ist."
Surfo wischte die Münzen in den weiten Ärmel und ließ sie in einer Tasche verschwinden. Virlirey sah ihn aufmerksam an. Er erwartet etwas von mir, ging es Surfo durch den Kopf. Aber was?
„Willst du nicht hören, was mein Gewissen bedrückt?" fragte der Prodheimer-Fenke erstaunt.
„Ich warte, daß du mit dem Bericht beginnst", antwortete Surfo würdevoll.
Virlirey nahm einen Schluck aus seinem Becher. „Ich bin reich", sagte er mit gequälter Stimme. „Aber nicht
Weitere Kostenlose Bücher