102 - Die Gottesanbeterin
umgehen gelernt. Wer ist dieser Tomotada? Und was haben wir plötzlich in Japan zu tun?"
„Ich werde euch alles drinnen erzählen. Noch heute nacht müssen wir aufbrechen. Die magische Reise wird uns an Ort und Stelle bringen. Dich, Unga, und Yoshirojo Kabuki, deinen Begleiter und dein Faktotum. Letzteren werde ich darstellen."
„Kann ich mitkommen nach Japan, Dorian?" fragte Don Chapman. „Ich könnte euch sicher von Nutzen sein."
„Tut mir leid, Don. Diesmal nicht."
Dorian Hunter und Unga hoben die Axt, das Schwert und die Keule auf und traten his Bauernhaus. Beide mußten sich bücken, um unter dem Türpfosten durchzukommen.
Don Chapman grinste. Er verübelte dem Dämonenkiller seinen Scherz nicht; im Gegenteil. Während er nach dem Vermächtnis des Hermes Trismegistos strebte, der vielleicht größten Macht dieser Erde, war Dorian Hunter zeitweise unausstehlich gewesen. Er hatte sich sehr verändert, war eine metaphysische Metamorphose mit dem Ys-Spiegel eingegangen, und das rücksichtslose Streben nach Macht hatte seinen Charakter geprägt. Magnus Gunnarsson, selber der Maxime huldigend, daß der Zweck die Mittel heiligte, hatte diese Entwicklung noch forciert. Dorian Hunters Freunde waren manchmal fast an ihm verzweifelt. Doch seit er das Vermächtnis des Hermes Trismegistos hatte antreten können, seit er sich am Ziel sah, hatte Dorian sich wieder zum Guten hin gewandelt. Er war wieder ruhiger und abgeklärter, humorvoller, freundlicher und aufgeschlossener.
Don Chapman konnte das nur begrüßen. Er ahnte noch nicht, daß Dorian inzwischen wußte, daß er mit dem Antritt des Vermächtnisses von Hermes Trismegistos keineswegs die Lösung aller Probleme in der Tasche hatte. Es kamen neue Probleme auf ihn zu, von denen er bisher noch keine Ahnung gehabt hatte.
Don Chapman ging hinter Dorian und Unga ins Haus.
Ralph Fiddler lief schreiend zum Geishahaus zurück. Er verlor seine Strohsandalen und riß sich die Füße an Steinen blutig. Aber das merkte er nicht.
Die Geisha Murasaki stand noch immer an der Tür und bewegte ihren Fächer.
„Zu Hilfe!" schrie der Amerikaner. „Hier geht etwas Schreckliches vor! Bei den Felsen ist eine Gruft und dort…"
Die Luft ging ihm aus.
Murasaki lächelte unergründlich und sagte: „Ich weiß."
„Sie wissen?" Fiddler war einen Moment völlig verwirrt. Dann riß er sich zusammen. „Wagen Sie es nicht, mich aufhalten zu wollen!"
Murasaki lächelte nur und fächelte.
Ralph Fiddler lief mit hochrotem Kopf ins Haus und schlug Lärm. Er brüllte das ganze Haus zusammen. Zwei Minuten später waren alle da. Der Belgier mit seinen vom Alkohol verquollenen Augen, Antje Keizerfeldt im Kimono und Gummistrümpfen an den Beinen und das französische Liebespaar.
Eisaku Yaschagai stand im Hintergrund, mit steinernem Gesicht. Er war als einziger von der Gruppe vollständig angezogen. Sei, die zweite Geisha, war nirgends zu sehen. Sie stand am Hintereingang, was keiner wußte.
Alle redeten erregt durcheinander und fragten nach der Ursache des Lärms.
Ralph Fiddler wandte sich an Eisaku Yaschagai. „Wo haben Sie uns da, hingebracht, verdammt?
Das ist ein Spukhaus. Gerade habe ich eine Frau ohne Kopf gesehen, und bei dieser Geisha Yoko geht es auch nicht mit rechten Dingen zu. Sie ist in einer Gruft bei den Felsen, bei der Frau ohne Kopf."
Jetzt schrien alle noch lauter.
Die Franzosen fragten: „Was ist los?"
„Zum Teufel, Ralph!" rief der Belgier. „Wenn man nichts vertragen kann, soll man die Finger vom Alkohol lassen."
Ralph Fiddler sah, daß ihm keiner glaubte.
„Was sagen Sie dazu?" schrie er Eisaku Yaschagai an.
Der Japaner verbeugte sich. „Ich habe euch herführen müssen. Ich bin einer Diener der Jikininki, wie die beiden Geishas. Gleich wird der Dämon kommen und euch alle fressen."
„Was?“
Die fünf Touristen starrten Eisaku Yaschagai perplex an. Da hörten sie draußen ein Summen und Sirren. Es waren gespenstische Geräusche.
Die fünf Touristen erbleichten und sahen sich an.
Plötzlich klappte die Vorderseite des Geishahauses auf. Sie fiel mit Getöse auf den Boden. Dann fielen auch Zwischenwände um. Das Geishahaus war ein geheimnisvolles Haus, in dem es keinen Schutz und keine Zuflucht gab.
Vor dem Haus stand die Jikininki. Sie sah aus wie eine überdimensionale Gottesanbeterin, eine riesige Fangheuschrecke. Ihre Vorderbeine mit den Fangklauen, mit denen sie die Beute packte, waren so groß wie Baggerschaufeln. Die Jikininki hatte die
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