102 - Die Gottesanbeterin
Gefängnisses von Hakone-machi.
Unga, der fest geschlafen hatte, erwachte. Er setzte sich auf der oberen Pritsche auf, stieß sich an der Decke den Kopf an und fluchte.
„Was hörte vor der Tür Geräusche und eine Stimme, die irgend etwas rief. Dann krachte es und eine Eisenfeile kreischte. Eine Schwertklinge schlug durch die schwere Eisentür und mit ein paar Hieben das Schloß heraus.
Nur ein Schwert konnte das fertigbringen: das Tomokirimaru. Ein Fußtritt ließ die Tür auffliegen.
Im schwachen Licht des Morgengrauens sahen Dorian und Unga eine riesige, schwarzgekleidete Gestalt vor der Tür stehen, das blanke Schwert in der Hand. Eine Eisenmaske mit aufgemalter roter Fratze verhüllte das Gesicht.
Tomotada war gekommen, der Schwarze Samurai der Gegenwart.
Dorian wußte noch immer nicht, wer jener Schwarze Samurai war. Er selbst, der 1586 als Tomotada geboren war, konnte es nicht sein. Denn wenn er nicht gestorben wäre, hätte er nicht wiedergeboren werden können. Doch wer hatte nun die Gestalt angenommen, die er damals in seinem Leben als Schwarzer Samurai und Sohn einer Mujina gehabt hatte? Oder war diese Gestalt auf irgendeine Weise zum Leben erweckt worden, und ein anderer Geist wohnte in ihr?
Der Schwarze Samurai bückte sich, um in die Zelle eintreten zu können. Dann stand er vor Dorian und Unga. In der roten Schärpe an seinem Gürtel trug er ein zweites Schwert, das dem Tomokirimaru in seiner Hand zum Verwechseln ähnlich sah.
„Keiner von euch rührt sich", sagte er, „sonst erschlage ich euch!"
Es war eine Feststellung.
„Weshalb bist du hergekommen?" fragte Dorian in seiner Gestalt als buckliger Yoshirojo Kabuki. „Willst du uns töten?"
„Rede mich nicht so respektlos an, du Stück Dreck!" sagte der Samurai auf japanisch. „Sonst stopft dir das Tomokirimaru das vorlaute Maul. Wegen diesem da bin ich hier. Ich will mir den Mann ansehen, der meine Kleidung trägt und ein Schwert führt wie das meine."
„Erhabener Herr, mein Samurai beherrscht die japanische Sprache nicht. Wenn Ihr mich Unwürdigen erschlagt, werdet Ihr Euch ihm nicht verständlich machen können."
„Meinst du, du Ratte? Ich weiß, daß dieser ein Beauftragter des Hermes Trismegistos ist. Was hat der Dreimalgrößte mit den Geschehnissen in Japan zu tun? Er soll sich um seine Angelegenheiten kümmern. Doch wenn er will, daß sein Samurai mich bekämpft, so kann erden Kampf haben. In der nächsten Nacht, beim Haus der Geisha Yoko im östlichen Seitental des Kowakidani-Tals will ich den Namenlosen Samurai erwarten und mich ihm zum Zweikampf mit dem Schwert stellen. Sag ihm das! Frag ihn, ob er meine Duellforderung annimmt."
Dorian übersetzte ins Englische.
„Wenn ich mein Schwert bekomme, werde ich mich zum Kampf stellen", antwortete Unga.
Dorian sagte es dem Schwarzen Samurai.
Tomotada zog das von Dorian im Hermes-Trismegistos-Tempel dem Tomokirimaru nachgebildete Schwert aus der Gürtelschärpe und warf es auf den Boden. Man hörte nun Stimmen, die näher kamen.
Die Wärter im Gefängnis hatten keine Schußwaffen, aber jetzt kamen sicher Männer mit Schnellfeuergewehren und Pistolen.
„Hier ist das Schwert!" sagte Tomotada. „Wenn der Namenlose Samurai nicht zu dein Treffen kommt, dann weiß ich, daß Hermes Trismegistos sich aus dieser Angelegenheit zurückgezogen hat. Der Dreimalgrößte soll sich gut überlegen, ob er sich weiter einmischen will. Ich gehe jetzt. Um Mitternacht bin ich am Ort des Duells."
Das Schwert, das Dorian geschmiedet hatte, war von der japanischen Polizei genau wie die anderen Stücke von Ungas Samuraiausrüstung beschlagnahmt worden. Tomotada oder die Macht, die hinter ihm stand, hatten es auf magische Weise aus dem Arsenal entwendet.
„Was ist mit uns?" rief Dorian, als sich Tomotada zur Tür wandte. „Wie sollen wir von hier wegkommen?"
Der Schwarze Samurai glich wirklich bis aufs Haar dem Tomotada der Vergangenheit, nur daß er keinen Rokuro-Kubi-Kopf am Ärmel trug.
Er lachte grimmig auf. „Das ist nicht meine Sache. Hermes Trismegistos soll für die Seinen sorgen." Er trat in den Gefängniskorridor hinaus. Schreie wurden laut und Schüsse krachten. Feuerstöße aus Schnellfeuergewehren peitschten durch die Luft. Doch die Kugeln konnten den Samurai mit der Maske nicht verwunden. Vor den Augen der entsetzten Wärter und rasch herbeigeholten Polizisten löste er sich auf, als hätte es ihn nie gegeben.
„Drei Wärter hat der Samurai mit der Maske niedergehauen",
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