1020 - Doriel
Toter?«
»Ja.«
»Und weiter?«
»Man spricht davon, daß er ein besonderer Toter ist. Einer, der zwar im Sarg und in der Erde liegt, der aber zugleich nicht verwesen kann. Die Leiche bleibt erhalten. Der Mann wird auch weiterhin so aussehen, wie er zu Lebzeiten bekannt gewesen ist.«
»Sagen Sie nur.«
»Ich lüge nicht.«
»Das habe ich auch nicht gesagt. Ich frage mich nur, warum jemand nicht verwest?«
»Davon habe ich auch keine Ahnung.« Er hob beide Hände, als würde er von mir bedroht. »Will ich auch nicht haben, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Verständlich. Und was Sie mir erzählt haben, stimmt alles?«
»Ja.«
Ich stellte die leere Dose Bier auf die Theke. »Gut, dann bedanke ich mich.«
Jetzt hatte der Rübezahl noch eine Frage. »Wo Sie jetzt alles wissen, Mister, möchten Sie Chadwick Island denn noch immer besuchen?«
»Jetzt erst recht.«
Er hatte auch Humor, denn er sagte: »Gut, daß Sie bei mir nicht in der Kreide stehen.«
»Ach, kommen Sie. Ich sehe das lockerer.«
»Wie Sie meinen.«
Ich winkte ihm noch zu, drehte mich um, und meine Lockerheit sowie mein Lächeln verschwanden wie weggeputzt. Was mir dieser Rübezahl gesagt hatte, das hatte auf keinen Fall gut geklungen.
Von jetzt sah ich Janes Fernbleiben aus einem anderen Blickwinkel.
Sie war jetzt den vierten Tag verschwunden. Das hörte sich verdammt schlecht an.
Bis zum Bootsverleiher waren es nur ein paar Schritte. In dem Laden bedienten zwei Männer. Sie sahen aus wie Vater und Sohn. Beide trugen die gleichen flachen Stoffmützen auf den Köpfen, und beide hatten sich die Oberlippenbärte wie dunkelblonde Sicheln wachsen lassen.
Als ich den Laden betrat, bediente der Sohn einen Touristen, während der Vater Dosen mit Fischfutter in ein Regal stapelte. Mein Kommen störte ihn in seiner Arbeit.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Sie verleihen Boote?«
»Ja.«
»Könnte ich eines mieten?«
Er gab keine akustische Antwort. Dafür schaute er mich von oben bis unten an.
»Was ist mit mir?«
»Sie wollen ein Boot?«
»Sonst hätte ich nicht gefragt.«
»Ich habe keines mehr.«
»Es lagen aber welche an der Anlegestelle. Die gehören Ihnen doch bestimmt.«
»Da haben Sie recht.«
»Und Sie wollen keines mehr verleihen.«
»So ist es.«
Allmählich wurde es mir zu bunt. Mochten die Menschen ja hier ihre Eigenarten haben, aber ich stand unter Druck. Ich mußte einen mir nahestehenden Menschen finden und ihn womöglich aus einer verdammten Lage retten.
Als der Mann sich abwenden wollte, hielt ich ihn fest.
»He, lassen Sie das!«
»Einen Augenblick noch bitte«, sagte ich. »Das Boot brauche ich wirklich. Aber nicht, um einen privaten Ausflug über den See zu machen, sondern dienstlich.«
Das letzte Wort hatte ihn zwar nicht schockiert, aber stutzig werden lassen. Seine Aggressivität verlor sich. »Habe ich ›dienstlich‹ verstanden?«
»Haben Sie.«
»Sie sind Engländer, wie?«
»Im Prinzip Schotte. Mein Name ist John Sinclair. Und hier können Sie ablesen, welchem Beruf ich nachgehe.«
Der Mann mußte erst eine Brille aus der Tasche holen. Er klemmte sie auf die Nase, las und nickte schließlich. »Scotland Yard, also«, sagte er in einem völlig normalen Tonfall.
»Nun sind die Fronten geklärt. Sagen Sie nur nicht, daß Sie etwas gegen die Polizei haben.«
»Nein. Ich heiße übrigens McCormick.«
Das Eis zwischen uns war gebrochen. Ich schenkte dem Mann reinen Wein ein. Als er hörte, daß ich zur Insel wollte, wurde er blaß. »Bei allen guten oder schlechten Geistern, davon würde ich Ihnen auf jeden Fall abraten.«
»Aber ich muß hin, weil ich eine Frau suche, die…«
Er unterbrach mich. »Ist sie blond?«
»Ja.«
»Auch bildhübsch?« Er fing an, Jane Collins zu beschreiben, und ich nickte zwischendurch.
»Ja«, gab er leise zu. »Diese Person kenne ich. Sie ist bei mir gewesen und hat sich ein Boot geliehen. Das letzte. Einen alten Kahn mit Außenborder. Sie wollte zur Insel rüber. Nur ist das schon vor…«, er rechnete kurz nach, »… vier Tagen gewesen.«
»Deshalb bin ich hier.«
»Dann suchen Sie die Frau?«
»Und ich muß sie finden, denn diese Insel scheint nicht geheuer zu sein, wie ich hörte.«
McCormick lachte. »Nicht geheuer ist gut. Alle hier haben Angst vor diesem Flecken Erde mitten im See. Das kann ich Ihnen sogar schriftlich geben.«
»Wer liegt dort begraben?« fragte ich.
Der Mann hob die Schultern.
So gab ich die Antwort. »Ein Toter, der nicht verwesen
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