1020 - Doriel
fest, daß ihre Arme anfingen zu zittern. Sie wollten nicht mehr mitmachen. In Höhe der Ellbogen vibrierten sie, als wollten sie dort brechen.
Unendlich mühsam hob sie noch einmal den Kopf an. Dann wunderte sich Jane darüber, daß noch immer das Licht brannte. Es erhellte auch die Treppe - und zugleich etwas, das über den Stufen schwebte wie ein Dunstklumpen, der allerdings keiner war und auch ziemlich fest aussah.
Rötlich und leicht gelblich angestrahlt wurde der Gegenstand, der tatsächlich über der Treppe lag.
Es war ein Totenschädel!
***
Ich spinne, dachte Jane. Ich bin schon so weit, daß mir meine Phantasie die schlimmsten Dinge vorgaukelt. Ein Schädel über der Treppe. Ein monströses Ding ohne Fleisch, Sehnen oder Haut. Ein widerlicher Anblick, ein Schädel, dessen Knochen in Höhe des Mauls und an den Rändern angefressen war.
Oder nicht?
War alles nur eine Einbildung?
Jane hob eine Hand an. Sie streckte sie dem Schädel entgegen, als könnte sie ihn aufhalten, aber er ließ es nicht zu.
Er schwebte über die Treppe hinweg auf Jane zu. Sie konnte ihn trotz ihres Zustands deutlicher sehen und stellte jetzt fest, daß die Augenhöhlen nicht leer waren. Darin hatten sich Kugeln hervorgeschoben, als wollten sie im nächsten Moment aus den Höhlen flutschen. Das geschah nicht, aber mit dem Schädel passierte etwas anderes. Für Jane sah es so aus, als wollte er sich auflösen. Plötzlich war ein dicker Nebel da, der den Knochenkopf einhüllte. Er hatte ihn kurzerhand gefressen, und der Dunst verteilte sich von oben nach unten, bis er die Stufen erreichte.
Genau dort verdichtete er sich. Etwas Unerklärliches geschah. Es war so überraschend für Jane, daß sie an einen Irrtum glaubte, weil sie es sich einfach nicht erklären konnte.
Auf der Treppe stand eine Gestalt.
Ein Mensch. Groß, schlank, dunkelblonde, längere Haare. Ein nackter Oberkörper über der eng sitzenden Hose. Dazu ein strenges, kaltes Gesicht, von dem eine Faszination ausging, der sich Jane Collins nicht entziehen konnte.
Sie richtete sich auf und wunderte sich darüber, wie glatt es ging. Auf einmal fühlte sie sich nicht mehr schwach. Da waren die Kräfte wieder zurückgekehrt. Der Anblick dieser Gestalt hatte sie regelrecht aufgeputscht. Nur entfernt dachte sie darüber nach, daß dieser Mensch einmal ein Knochenschädel gewesen war, in dessen Augenhöhlen schwammige Kugeln gelegen hatten.
Für die Leichen hatte sie keinen Blick; selbst den Verwesungsgestank nahm Jane nicht mehr wahr.
Sie wunderte sich nur darüber, daß sie einfach auf die Treppe zuging, als wäre sie der Lockung dieser anderen Person restlos verfallen.
Das stimmte auch. Jane schritt nicht aus freiem Willen dahin. Sie bewegte sich wie an einer Leine hängend, denn es gab für sie nur noch diesen seltsamen Fremden.
Ich schwebe, dachte sie - ich schwebe tatsächlich! Alles ist so leicht geworden. Die Enge hier, das Grauen, es ist alles weg. Ich kann wieder laufen, ich werde weitergehen, und sie sah auch, daß der andere ihr beide Arme entgegenstreckte, als Jane die unterste Stufe erreicht hatte und davor stehenblieb.
Kein Gerippe mehr. Nur dieser andere, faszinierende Mann, dessen Arme sie sich nicht entziehen konnte.
»Ja«, flüsterte Jane, »ich komme.« Sie spürte genau die Seelenverwandtschaft zwischen ihnen. Es gab da ein Band, dessen Existenz sich Jane nicht erklären konnte. Das Wissen, daß der andere sie aus diesem Verlies wegholen würde, war da.
Auch sie hob die Arme an. Beide Hände berührten sich. Die des anderen waren kalt und trotzdem irgendwo auch warm. Ein besonderer Strom, der zuerst durch Janes Finger floß, in die Gelenke hineinglitt und sich nach oben hin ausbreitete, so daß er auch ihren Körper durchrieselte und sie auf den neuen Weg brachte.
»Jetzt bist du bei mir!« sprach sie der Fremde an. Auch seine Stimme war etwas Besonderes, denn bei jedem Wort hallte sie etwas nach.
»Ja«, flüsterte Jane nur. Der Kraftstrom ließ nicht nach. Von dieser anderen Gestalt ging er auf sie über und sorgte dafür, daß ihre Schwäche auf wundersame Art und Weise verschwand.
Sie war wieder zu einem normalen Menschen geworden und hatte den Schrecken hinter sich gelassen.
»Wer bist du?« flüsterte sie.
»Einer, der lange gewartet hat.«
»Ein Mensch?«
»Nein.«
Jane nickte. Sie nahm es hin. Aber die Neugier war nicht gestillt. Deshalb fragte sie: »Hast du auch einen Namen, mein Freund?«
»Ja, ich heiße Doriel.«
Jane
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