1020 - Doriel
Fall war mir die Lösung zu einfach. Außerdem wußte ich zu wenig über ihn. Es war möglich, daß er sich auf eine bestimmte Art und Weise ausdrücken und sich mir gegenüber verständlich machen konnte.
Noch drei Stufen mußte er gehen, dann hatte er fast den Punkt erreicht, an dem ich stand.
Keine Regung in seinem grauen Gesicht. Der Mund wurde von zwei Lippen gebildet, die mich an alte, rissige Schläuche erinnerten. Das Haar lag glatt auf seinem Kopf und war mit dem Seewasser vollgesaugt. Das Kreuz hing vor meiner Brust. Der andere konnte es nicht sehen, weil die Kleidung es verdeckte, aber es »meldete« sich auch nicht bei mir. Keine Wärme. Es war so, als wäre für diese Gestalt das Kreuz überhaupt nicht vorhanden.
Ich war nicht an der Treppe stehengeblieben, sondern etwas zurückgegangen, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen. Als die Gestalt die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, zog ich meine Beretta. Ich war darauf gefaßt, daß er sich leicht drehte, um auf mich zuzugehen. Weit brauchte er nicht zu laufen.
Er ignorierte mich.
Das überraschte mich wirklich. Hier stand jemand vor ihm, den er schon einmal versucht hatte, zu töten. Jetzt bekam er zum zweitenmal die Chance, aber ich war nicht mehr wichtig, denn er drehte sich sogar zur andere Seite hin, beugte den Oberkörper dabei leicht nach vorn und streckte beide Arme aus, so daß sie über einem bestimmten Ziel hin- und herschwangen.
Es war einer der Toten. Derjenige Mann, dem jemand die Kehle durchgeschnitten hatte.
In mir stieg ein schlimmer und auch schrecklicher Verdacht auf, der sich sehr bald bestätigte, denn die Klaue des Monstrums griff in das Haar des Toten und hob die Leiche an wie eine Puppe. Dann öffnete der Graue sein Maul.
Etwas durchschoß mich siedendheiß. Mein Blut wollte anfangen zu kochen, denn ich hatte die Absicht des anderen erkannt. Er war ein Kannibale, er war vielleicht nur ein Zombie, ansonsten ein verdammter Ghoul, eine der schlimmsten Abarten, die es überhaupt gab, denn sie ernährten sich von Menschenfleisch.
Das Monstrum drehte mir sein Profil zu. Jede Bewegung, jede Tat war für mich zu erkennen. Er hatte sein Maul weit aufgerissen. Die Zähne darin schimmerten wie lange Stifte, und er wollte in den Hals oder die Schulter hineinbeißen.
Okay, der Mann war tot. Ihm tat nichts mehr weh, wie man immer so trefflich sagt. Nur konnte ich auf keinen Fall zulassen, daß dieses Monstrum etwas tat, das mir zutiefst zuwider war. Schließlich war das Opfer noch immer ein Mensch und kein Tier.
Bevor er zubeißen konnte, sprang ich auf ihn zu. Ich griff ihn nicht mit den Händen an, ich schoß auch nicht, aber ich benutzte eine Weinflasche, die ich gedankenschnell aufgehoben hatte und sie ihm nun auf den Kopf schmetterte.
Es entstand ein Laut, als hätte jemand eine Tür zugeschlagen. Hart und trocken mit einem Nachhall.
Die Flasche zersplitterte, Scherben flogen in alle Richtungen weg, und natürlich schwappte auch der rote Wein hervor, von dem ich nicht unbedingt getroffen werden wollte und deshalb zur Seite sprang.
In der Hand hielt ich noch den Flaschenhals mit seiner gezackten Scherbenkante vorn. Da sahen die Scherbenstücke aus wie breite Messer, und sie waren höllisch scharf.
Eine Waffe gegen das Monstrum.
Es hatte sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Schmerzen verspürte es nicht. Mein Schlag hatte dafür gesorgt, daß es in die Knie gesackt war, in dieser Haltung erst einmal blieb, so daß ich auf den Schädel schauen konnte.
Da hatte ihn die volle Flasche wirklich mit einer immensen Wucht getroffen. Irgendein Scherbenstück oder ein scharfer Rand hatte seine Haare schräg aufgerissen und auch in der Kopfhaut einen langen Streifen hinterlassen.
Kein Blut quoll daraus hervor. Zumindest kein normales. Ich sah eine wäßrige und nur leicht gerötete Flüssigkeit, die dann an einer Seite des kantigen Schädels herab nach unten rann und dabei das linke Ohr benetzte.
Er hockte noch immer vor mir. Die Leiche lag am Boden. Er stierte auf sie. Die Gestalt schien zu überlegen, was sie unternehmen sollte, und ich wartete ebenfalls. Kein Geräusch verließ den offenen Mund, bis zu dem Augenblick, als sich bei ihm einiges veränderte.
Jetzt hörte ich den Laut.
Ein Klatschen. Zugleich auch so etwas wie ein Schmatzen und Schlürfen. Der Kopf zuckte, die Hände ebenfalls, die er vor seinen Körper hielt, um sie anzustarren.
Dann spreizte er sie.
Genau da erkannte ich, was mit ihm geschehen war.
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