1021 - Ich jagte den untoten Engel
seine stärkste Waffe ein, die Zunge.
Ich hatte nicht mitbekommen, wie sein Mund aufklappte. Aber plötzlich stand er offen, und dann wischte die Zunge mit einer rasenden Geschwindigkeit hervor. Sie war nur noch ein sich schnell bewegender Schatten, der allerdings das Ziel voll traf, denn ebenso schnell wickelte sich die Zunge um Liliths Hals, um die Oberhexe zu erwürgen. Sie sollte das gleiche Schicksal erleiden, das er auch mir zugedacht hatte.
Was passierte, interessierte mich in diesem Moment nicht. Ich erwachte aus meiner Erstarrung, und an die erlittenen Blessuren dachte ich nicht mehr.
Ich war sehr schnell. Bevor Jane Collins überhaupt nachdenken konnte, war ich bei ihr. Ich zerrte sie von Doriel weg. Sie war im ersten Moment derart überrascht, daß sie sich nicht bewegte und dabei steif in meinen ausgebreiteten Arm hineinfiel. Sie federte dagegen, blieb auch in dieser Lage, und dann sah sie etwas, das sie in Angst und Schrecken versetzen mußte.
Vor ihr schimmerte mein Kreuz!
Jane fing an zu zittern. Sie riß den Mund auf. Panik zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Noch stand sie unter dem verdammten Einfluß des untoten Engels. Sie war durch ihn innerlich und äußerlich verändert worden. Ihre Haut wirkte an manchen Stellen wie aufgepumpt. Ich traute mich nicht, sie mit dem Kreuz zu berühren. Ich wollte ihr nur drohen, denn allein der Anblick reichte aus, um sie in eine Starre zu versetzen. »Du nicht, Jane«, flüsterte ich. »Das ist einzig und allein eine Sache zwischen uns beiden…«
***
Und ob es das war!
Lilith hatte sich nicht gewehrt, als sie von der langen, aalartigen Zunge erwischt worden war. Das Ding hatte sich mehrmals wie eine Peitsche um ihren Hals gewickelt und hielt sie eisern fest. Einem normalen Menschen wäre die Luft abgeschnürt worden, nur war Lilith das nicht, sondern eine Dämonin, die schon zu Urzeiten existiert hatte, ebenso wie der untote Engel Doriel.
Man konnte Lilith auch zu den Kreaturen der Finsternis zählen, wenn man so wollte, aber sie verfolgte eben andere Pläne und dachte mehr an die Macht über die Hexen.
Keine wollte sie abgeben, keine würde sie abgeben, das schaffte auch Doriel nicht, obwohl er sich bemühte. Es war ihm anzusehen. Auch ein Dämon oder dämonenähnliche Geschöpfe mußten sich anstrengen, und diese Kraft malte sich auf seinem Gesicht ab, denn unter der Haut traten die Adern hart hervor.
Er wollte Lilith zu sich heranziehen.
Zuerst passierte nichts. Fast lässig hielt die Frauengestalt diesem Druck stand. Sie lächelte sogar, sie wartete ab und schien locker zu sein.
Straff war die Zunge gespannt. Sie vibrierte leicht wie zittriges Leder. Das Maul des Doriel stand weit offen. Eine Höhle, aus der die Zunge hervorgeschlagen war. Düster bis tief in den Rachen hinein, aus dem jetzt keuchende Laute drangen.
Lilith ging den ersten Schritt nach vorn!
Genau auf diese Bewegung hatte der andere nur gewartet. Die keuchenden Laute verschwanden oder veränderten sich in Jubelschreie, denn Doriel sah sich auf der Straße des Siegers.
Ein Irrtum, wie sich nach dem zweiten Schritt herausstellte. Ich erhielt dabei den Eindruck, daß sich alles nach einem bestimmten Muster abspielte, selbst mein Verhalten trug dazu bei, denn ich hielt Jane im Schach. Alles war wie von einem Regisseur gemanagt, als hätte Luzifer persönlich diese Szene aufgebaut.
Lilith glühte auf.
Nicht rot, nicht feurig, dieses kalte Blau verstärkte sich dermaßen, daß es bereits einem Glühen gleichkam. Und diese Intensität blieb nicht nur auf ihr Gesicht beschränkt, dessen harte Umrisse sich dabei verloren und in die neue Farbe eintauchten.
Plötzlich ›brannte‹ die Zunge!
Das Licht erfaßte sie. Es zersprühte diesen langen, schlangenähnlichen Gegenstand, der sich vor meinen Augen in eine Lunte verwandelt hatte. Blauweiße Lichtspritzer jagten in die verschiedenen Richtungen weg, so daß mir der Vergleich mit einer Wunderkerze in den Sinn kam.
Und das kalte Feuer fraß sich weiter.
In den ersten Sekunden reagierte Doriel nicht. Er war einfach zu sehr überrascht worden und hatte auf seine eigene Stärke vertraut, auf seine große Waffe. Jetzt mußte er zusehen, wie sie verbrannte und wie locker Lilith einen Arm hob, um die Reste von ihrem Hals zu drehen. Das Zeug flatterte zu Boden. Es erinnerte mich dabei an eine zu Asche gewordene Luftschlange.
Sie war frei.
Nicht aber Doriel!
Noch immer hing ein langes Stück seiner Zunge aus dem offenen Mund hervor.
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