1026 - Blutige Vergangenheit
»Ich habe ihn gar nicht gesehen. Er war plötzlich da. Dabei wollte ich nur hier an der Burg spielen. Nur mal hingehen, dann hat er mich gepackt, und ich konnte plötzlich fliegen. Es war so anders. Wir brauchten gar nicht richtig zu gehen.« Ihre Erklärungen wurden immer wieder von starken Weinpausen unterbrochen, und wir versuchten gemeinsam, Helen zu beruhigen.
Suko war aufgestanden. Fit sah er nicht aus. Sein Kopf hatte den Aufprall nur schwer verdauen können. Ich hörte ihn auch leise fluchen, aber eine Platzwunde sah ich nicht. Dann schimpfte er über sich selbst und schaute in den jetzt leeren Gang zwischen den beiden Ruinenmauern hinein.
Da war nichts mehr. Duncan Sinclair hatte es verstanden, zu verschwinden. Er war abgetaucht, aber er würde zurückkehren, um seine furchtbare Drohung in die Tat umzusetzen.
»Wie wäre es denn, wenn wir dich zu deiner Mutter bringen, Helen? Ist das okay?«
»Ja, aber bleibt bei mir.«
»Das ist versprochen. Laß mich dann mal aufstehen. Oder bist du verletzt?«
»Weiß ich nicht. Es hat schon weh getan.«
»Wir versuchen es.«
Ich stellte Helen auf die Füße. Sicherheitshalber hielt ich sie noch fest. Das war nicht nötig. Sie hatte sich nur das linke Knie aufgeschlagen. Dort hatte die Hose einen Riß erhalten. Ansonsten war ihr nichts geschehen.
Da hatten wir alle drei Glück gehabt, und Helens leichtes Humpeln war nicht weiter schlimm.
Suko fühlte sich auch wieder besser. Er hatte seine Dämonenpeitsche wieder eingesteckt und die Umgebung abgesucht. Achselzuckend kehrte er zu uns zurück. »Sorry, aber da ist nichts gewesen. Tut mir leid. Kein Duncan Sinclair zu sehen.«
»Das war anzunehmen.«
Auf dem Gesicht meines Freundes malte sich die Sorge ab. »Dann laß uns erst einmal zurückgehen und das Kind wegbringen. Alles andere wird sich ergeben.«
»Was denn?« fragte ich.
»Seine Rückkehr.«
Ich hob nur die Schultern. Suko verstand die Geste. Ich wollte darüber nicht in Anwesenheit des Kindes sprechen. Helen hatte schon genug durchlitten.
Da sie humpelte, fragte ich, ob sie getragen werden wollte. Das aber lehnte sie voller Entrüstung ab. »Nein, ich bin doch kein kleines Kind mehr.«
»Entschuldige. Ich habe es nur gut gemeint.«
»Das sagen meine Eltern auch immer. Dann wird es meist langweilig.«
»Wußten sie denn, daß du so einfach verschwunden bist?«
Helen wurde rot und schüttelte den Kopf.
»Also nicht. Hin und wieder sollte man auf die Eltern hören. Sie meinen es wirklich gut, obwohl das für euch Kinder zunächst nicht so aussieht.« Ich konnte mir diese oberlehrerhafte Bemerkung einfach nicht verkneifen und erntete als Antwort ein Schweigen. Hätte ich als Kind auch getan.
Wir hatten bereits den direkten Bereich der Ruine verlassen und konnten den Hang hinab in das Camp schauen. Dort hatte sich nichts verändert. Nach wie vor herrschte ein regelrechtes Gewusel, und auch die Kapelle spielte wieder. Die Klänge der Dudelsäcke wehten uns entgegen. Wir sahen auch eine andere Person, die den Hang hochstieg. Es war eine Frau, die uns winkte, als sie uns entdeckte.
»Das ist doch Karen«, sagte Suko.
»Und wie.«
Karen war jetzt stehengeblieben. Sie winkte jetzt mit beiden Armen, als wollte sie ein Flugzeug einweisen, und sie sah dabei sehr erleichtert aus.
Ich winkte zurück. Zum Zeichen, daß ich verstanden hatte. Karen Sinclair ging nicht mehr weiter. Sie wartete auf uns, und als wir in Rufweite an sie herangekommen waren, hörten wir ihre Stimme.
»Ihr habt es geschafft? Ihr habt es wirklich geschafft?«
Wir wußten, was sie meinte. Wahrscheinlich hatte sie als einzige Person aus dem Camp gesehen, was oben bei den Ruinen passiert war. Deshalb hatte sie auch hochlaufen und nachschauen wollen.
Auch für Karen mußte es eine große Erleichterung sein, Helen gesund zu sehen. Meine Namensvetterin war sogar so überwältigt, daß sie Helen in die Arme schloß und fest an sich drückte.
»Kennst du sie?« fragte ich.
»Nein, aber ihre Mutter.« Karen nickte der Kleinen zu. »Sie hat sich irrsinnige Sorgen um dich gemacht, mein Kind.«
»Ich sollte ja nicht weglaufen.«
»Eben, das hat mir deine Mutter auch gesagt.« Karen wandte sich wieder an uns. Mit wenigen Worten berichtete sie von ihren Beobachtungen und schüttelte dabei immer wieder den Kopf, weil sie nicht fassen konnte, daß Helen noch lebte.
»Die beiden haben mich aufgefangen«, sagte Helen. »Der andere hat mich einfach von der Mauer geworfen.«
»Ja, Helen, das
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