1026 - Blutige Vergangenheit
verstanden und fragte: »Wo könnte er sich versteckt halten?«
Ich deutete schräg in die Höhe. »Dort oben. Irgendwo nahe der Ruine. Hier unten ist er nicht. Er hat Zeit, er lauert. Er wartet, bis die Menschen ihre Plätze gewechselt haben. Dann hat er sie alle zusammen auf einem begrenzten Gebiet und kann zuschlagen.«
»Alle töten?« flüsterte Karen.
»Das sieht sein Plan wohl vor.«
»Aber wie will er das tun?« Karen ballte ihre Hände. »Mein Gott, er kann sie doch nicht der Reihe nach niederschießen. Das klappt nicht, finde ich.«
»Du hast recht. Für ihn gibt es andere Möglichkeiten.«
»Und welche?«
Ich schob den Pappteller von mir weg und trank einen Schluck Bier. »Jemand, der den Tod überwunden hat, der einige Jahre in einem Verlies hockte und dort praktisch verhungert ist, wird Möglichkeiten kennen. Du weißt, Karen, was wir mit ihm erlebt haben. Das war schon unglaublich und hart. So denke ich mir, daß ihm noch andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen.«
»Das macht mir alles Angst.«
»Kann ich mir denken. Auch mein Magen zieht sich immer mehr zusammen.«
»Wenn wir hier unten bleiben, hat das keinen großen Sinn«, sagte Suko. »Wir sollten uns bei den Ruinen aufhalten. Das ist bestimmt wirkungsvoller.«
»Ja.«
»Dann gehe ich mit!« sagte Karen.
»Warum willst du dich in Gefahr begeben?«
»Hast du einen anderen Vorschlag, John?«
»Den habe ich. Nimm einfach unseren Wagen und fahr weg. Nur bis Wick. Dort kannst du auf uns warten.«
Karen schaute mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.
»Das hast du doch nicht etwa ernst gemeint?«
»Doch, habe ich. Bist du sicher, ob er dich nicht als erste holen wird? Oder es zumindest versucht? Ich weiß nicht, welche Waffen ihm noch zur Verfügung stehen, aber die Bilder der beiden ermordeten Namensvettern gehen mir nicht aus dem Sinn.«
»Das geschah in London, John. Wer sagt mir denn, daß er mich nicht auch in Wick findet, wenn ich mich dort verstecke?«
»Ist ein Argument.«
»Was meinst du denn, Suko?«
»Ich sehe das etwas anders. Du schwebst hier ebenso in Gefahr wie in Wick. Er will sich ja alle Sinclairs holen. Für ihn ist jeder schuldig, der den Namen trägt.«
»Und hier könnte ich vielleicht sogar noch helfen«, sagte sie.
Ich winkte ab. »Okay, ihr habt mich überredet. Versuchen wir es eben. Du bleibst hier, dann sehen wir weiter.«
»Aber bei der Ruine.«
Ich stimmte zu.
Den halbvollen Bierkrug ließ ich stehen. Mittlerweile war die Zeit schon weiter fortgeschritten. Im Winter wäre es jetzt dunkel gewesen, so aber hing noch der lichte, weite Himmel über unseren Köpfen. Ein Himmel, der mir an der Küste immer größer, weiter und heller vorkam, auch wenn er mit Wolken bedeckt war.
Die allgemeine Stimmung war noch mehr gestiegen. Es herrschte so etwas wie Aufbruchslaune. Die Menschen hatten ihren Spaß. Sie tanzten im Rhythmus der Lieder, die von der Dudelsack-Band gespielt wurden.
Niemand dachte an den Tod. Auch Helens Sturz hatte sich nicht herumgesprochen. Ihre Eltern hatten dichtgehalten. Wir hielten unsere Ohren offen und hörten immer wieder, wie sehr man sich doch auf den Abend oder die Nacht freute.
Einige blieben besser hier unten. Sie hatten schon zu tief in ihre Gläser geschaut. Bei ihnen schien es fraglich zu sein, ob sie den Weg über die Böschung schafften.
Auf der einen Seite war ich froh, den Trubel hinter mir lassen zu können. Uns stand ein verdammt harter Strauß bevor, da wollte ich zunächst noch Ruhe haben.
Als erste gingen wir hoch zu den Ruinen, wo auch das Geländefahrzeug stand. Die Männer hatten den kleinen Beiwagen abgeladen und waren zwischen den hohen Steinen verschwunden.
Duncan Sinclair ließ sich nicht blicken. Ich war mir aber sicher, daß er sich irgendwo dort oben versteckte. Einer, den wir erschossen hatten, der aber trotzdem wieder lebte. Sein Geistkörper hatte den zweiten gerettet.
Unheimlich, aber nicht unmöglich. Ich suchte nach Vorteilen und kam letztendlich zu dem Ergebnis, daß wir vielleicht einen Teilsieg errungen hatten.
Wahrscheinlich würde er sich nicht mehr aufteilen können. Und wenn, dann konnte sich nur ein Körper bewegen, der feinstoffliche.
Der andere war ausgeschaltet.
Theorien, Hoffnungen, nicht mehr…
Von der Seite her versuchte es Karen mit einem Lächeln. »Ich habe dich selten so nachdenklich erlebt in der letzten Zeit. Was ist los? Woran denkst du?«
»Ich schätze unsere Chancen ein.«
»Und? Wie stehen
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