1026 - Blutige Vergangenheit
Mein Vater hat mich nicht richtig umbringen können, ihr werdet es auch nicht schaffen, das schwöre ich.«
»Hör zu, Duncan!« schrie ich zu ihm hoch. »Das Kind hat dir nichts getan. Es muß in Sicherheit gebracht werden. Wir haben deine Wünsche genau erfüllt.«
Die Kleine weinte. Sie war jetzt erstarrt. Auch wenn sie nicht alles begriffen hatte, mußte ihr doch klargeworden sein, daß dies kein Spiel mehr war.
»Was geht mich dieser Balg an?« höhnte Duncan.
»Ach. Bist du schon so tief gesunken, daß du dich an Kinder halten mußt? Versteckst du dich jetzt dahinter? Jetzt gebe ich deinem Vater recht, daß er dich nicht mehr haben wollte…«
»Haben?« brüllte er.
»Ja.«
»Ihr wollt das Kind, wie?«
Die Frage gefiel mir nicht, deshalb fiel meine Antwort auch zögernd aus. Sie bestand nur aus einem Nicken.
»Gut, Sinclair, ich bin nicht so. Da habt ihr es!«
Das letzte Wort lag noch als Echo in der Luft, als er das Kind losließ, ihm dann einen Stoß in den Rücken gab, und die Kleine über die Mauerkante hinweg in die Tiefe stürzte…
***
Die Mutter war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, daß ihr Karens starre Haltung nicht aufgefallen war. Und sie hatte auch nicht ihr Kind auf der Mauerkante gesehen, geschweige denn die dunkle, böse Gestalt eines Duncan Sinclair.
Sie bedankte sich nur bei Karen, weil sie ihr überhaupt zugehört hatte.
»Keine Ursache.«
»Dann werde ich jetzt zu meinem Mann gehen.«
»Tun Sie das.«
»Vielleicht ist Helen ja wieder aufgetaucht. Bei ihr ist man vor Überraschungen nicht sicher. Wir sehen uns dann später noch beim abendlichen Fest.«
»Ja, bis dann.« Karen schaute der Frau nach. Wenn sie ehrlich gegen sich selbst war, gestand sie sich schon ein schlechtes Gewissen ein. Sie hätte die Mutter informieren können, aber auf der anderen Seite wäre die Frau vielleicht durchgedreht und hätte sonst was angestellt.
Noch standen sie auf der Mauer.
Karen Sinclair konnte sich nicht vorstellen, was dieser Satan mit dem Kind dort zu suchen hatte. Wenn sich jemand eine Geisel holte, wollte er diese als Druckmittel benutzen.
Da machte auch Sinclair wohl keine Ausnahme. Aber gegen wen setzte er das Kind ein?
John und Suko.
Es gab keine andere Möglichkeit. Die beiden mußten dort oben bei den Ruinen auf ihren Namensvetter getroffen sein. Sicherlich war es zum Kampf gekommen, in dem Sinclair sich jetzt das Kind als Trumpf oder Geisel geholt hatte.
Auf einmal bewegte er sich, ohne seinen Standplatz dabei zu verändern. Es war nur eine kurze Bewegung, aber er hatte sich dabei von seiner Geisel gelöst.
Und ihr stieß er in den Rücken.
Selbst Karen schrie, als sie sah, wie Helen nach vorn gestoßen wurde und in die Tiefe fiel…
***
Es war wieder einer der Augenblicke im Leben, der uns schwächte.
Das Unfaßbare war zur Realität geworden. Dieses Untier mit dem Namen Sinclair scheute sich nicht, das Kind in die tödliche Tiefe zu stürzen. Es würde den Aufprall auf dem harten Boden nicht überleben.
Dieser eine Gedanke schoß Suko und mir durch den Kopf. Deshalb handelten wir auch zugleich und starteten.
Was mit Sinclair passierte, das war uns beiden in diesem Moment egal. Wir wollten das Mädchen, und wir wollten es haben, bevor es zu Boden schlug.
Ich erlebte die Szene, als wäre ich selbst der Mittelpunkt eines Film, der bei einer spannenden Sequenz im Zeitlupentempo ablief.
Wir rannten, das Mädchen fiel.
Ich hatte den Kopf so in die Höhe gedrückt, um es auch zu sehen.
Der fallende Körper mit den umherrudernden Armen und Beinen.
Die leicht aufgeblähte Kleidung, das in die Höhe wirbelnde Haar, dazu das bleiche Gesicht, und zudem schien alles Leben aus dem Körper gewichen zu sein, denn hier hatte sich ein junger Mensch in eine Puppe verwandelt. Nur daß sie in Wirklichkeit leider keine war.
Auch wenn das Mädchen nicht unbedingt schwer war, ein aus dieser Höhe fallender Körper hatte sein Gewicht, der konnte auch einen Fänger umreißen oder verletzen.
Wir aber waren zu zweit. Wir hatten die Arme vorgestreckt und leicht nach oben gedrückt. Vier Händen konnten den Aufprall abfedern.
Es ging sowieso alles schnell, die Zeit raste, aber zum Schluß ging es noch schneller.
Wir waren da – und der Körper prallte auf uns.
Das Kind erwischte uns beide mit der Wucht eines Steinschlags.
Wir schafften es nicht mehr, auf den Beinen zu bleiben. Zudem prallte und rutschte der Körper auch schräg auf unsere Schultern, und die Aufprallwucht
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