1026 - Blutige Vergangenheit
bewegte und dabei des öfteren den Namen Helen rief.
Dann sah sie Karen.
Für einen Moment blieb sie stehen, starrte Karen an und kam schnell auf sie zu. Daß sie dabei noch einen Außenspiegel berührte und verbog, war ihr egal. »Bitte«, sagte die Frau. »Haben Sie Helen gesehen?«
»Helen? Wer ist denn das?«
»Meine kleine Tochter.« Sie schaute sich gehetzt um. »Sie ist verschwunden. Einfach nicht mehr da. Ich habe schon überall nach ihr gesucht und sie auch gerufen. Aber sie meldet sich nicht.«
»Das tut mir leid, aber…«
»Hören Sie. Ich beschreibe sie Ihnen. Helen hat blondes Haar. Sie trägt grüne Jeans und ein weißes Sweatshirt mit Früchten als Aufdruck an der Vorderseite. Das kann man doch so leicht nicht übersehen – oder?«
»Da haben Sie recht, Madam, aber Ihre Tochter ist mir nicht aufgefallen.«
Die Mutter wäre beinahe zusammengesackt. Jedenfalls sanken ihre Arme wie Stöcke nach unten. »Dann weiß ich auch nicht mehr weiter«, flüsterte sie.
»Ich bitte Sie, Madam. Wo soll denn Ihre Tochter schon sein? Verlaufen kann sie sich hier nicht.«
»Sie kennen Helen nicht. Das ist ein Wildfang. Die hat Hummeln im Hintern, wie man so schön sagt. Sie will immer alles ausprobieren. Sie ist einfach nicht zu halten. Natürlich wollte sie hoch zu den Ruinen, und natürlich habe ich ihr gesagt, daß es gefährlich ist. Aber sie hörte nicht. Jetzt ist sie weg.«
Karen Sinclair spürte den Schauer auf ihrem Rücken. »Sie wollte hoch zu den Ruinen, sagten Sie?«
»Ja.«
»Das ist nicht gut.«
»Meine ich auch!« stimmte die Frau zu. Sicherlich aus anderen Gründen als Karen. »Dabei habe ich es ihr bei Androhung von Strafe verboten. Aber Helen ist eben so. Bestimmt hat sie noch jemand gefunden, der mit ihr gegangen ist. Die Ruinen stehen zu nahe an den Klippen. Wie leicht kann jemand hinunterstürzen.«
»Sind Sie mit Ihrer Tochter allein hier?«
»Nein, mein Mann ist auch da. Aber der ist beschäftigt. Er baut den großen Grill mit auf. Später, wenn wir oben bei den Ruinen sind. Ich kann ihm jetzt nicht damit kommen.«
»Das denke ich auch«, sagte Karen leise, schaute aber zu den Burgresten hoch, die sich in der klaren Luft gestochen scharf abhoben.
Zuerst glaubte sie an eine Täuschung, dann zwinkerte sie, aber das Bild blieb trotzdem.
Auf einer der Mauern stand eine dunkle Gestalt.
Aber sie war nicht allein.
Vor oder neben ihr, so genau war das nicht zu erkennen, stand noch jemand. Ein Mädchen, kleiner als der Mann.
Aber dieses Mädchen hatte blondes Haar wie Helen.
Und die Gestalt war kein anderer als Sinclair…
***
Nein, der Kampf war noch nicht beendet. Nur die Karten in diesem tödlichen Spiel waren anders verteilt worden. Jetzt hielt Duncan Sinclair wieder seine Trümpfe in der Hand, und dies in Gestalt einer Geisel. Eines Mädchens, das höchstens zehn Jahre alt war und nicht wußte, was mit ihr passierte.
Sinclair mußte es sich geholt haben. Es weinte. Es hatte Angst, aber es war auch für ihn das perfekte Druckmittel gegen uns. Suko würde sich hüten, mit der Peitsche zuzuschlagen. Eine falsche Bewegung, und das Kind war tot.
»Dieses Dreckschwein«, flüsterte ich und hörte als Antwort ein heiseres Lachen, obwohl mich Duncan bestimmt nicht gehört hatte.
Er machte eben weiter. »Wer mich besiegen will, muß besser sein«, rief er uns zu. »Ihr seid zwar gut, wie es sich wohl auch für einen Sinclair gehört, aber nicht besser. Ich habe mir die Kleine geholt, und ich werde ihr das Genick brechen, wenn ihr nicht tut, was ich will.«
In meiner Nähe stöhnte Suko vor Wut. Aber er mußte den Befehlen des anderen nachgeben. Die Peitsche rutschte ihm aus der Hand und blieb neben seinem rechten Fuß liegen.
»Sehr gut! Und jetzt geht zurück. Weg von mir! Los…!«
Es blieb uns nichts anderes übrig. Er verfolgte uns mit seinen Blicken. Die Arme und Hände hatte er bereits um den Hals der Kleinen gedreht. So würde er ihr sicherlich das Genick brechen können. Dieses Bild fraß sich bei mir ein. Es war für mich so schlimm, denn dort oben auf der Mauerkrone stand ein Satan, einer, der den Tod überlistet hatte, mit seiner Geisel.
»Weiter, weiter!« herrschte er uns an.
Wir gingen zurück. Hielten sogar die Arme vom Körper weg und gaben ihm so keine Chance, um einzugreifen.
»Halt, das ist weit genug!« erklärte er uns nach ungefähr acht, neun Schritten.
»Und jetzt?« rief ich ihm zu.
»Werdet ihr erleben, was es heißt, sich gegen mich zu stellen.
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