1026 - Blutige Vergangenheit
riß uns beide von den Beinen.
Das Mädchen schrie nicht, aber wir hörten ein so verzweifelt klingendes Stöhnen. Dann lagen wir flach, die Kleine hatte sich noch gedreht und lag schräg auf uns.
Suko war auf den Rücken gefallen. Ich lag auf der Seite. Zwar registrierte ich, daß er sich nicht bewegte, aber etwas anderes lenkte mich ab und war auch wichtiger geworden.
Genau dort, wo Duncan Sinclair lag, schwebte seine Zweitgestalt über dem leblosen Körper. Und es passierte etwas, was ich nur staunend bewundern konnte.
Der Geistkörper drang in den ersten ein und machte ihn so auf seine Art und Weise lebendig. Alles ging blitzschnell und würde von einer grünsilbrig schimmernden Aura begleitet.
Sie zeichnete den menschlichen Körper nach, als wollte sie ihn besonders hervorheben. Für eine Sekunde sah er aus wie ein im Computer hergestelltes Filmgeschöpf, das dann mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung aufstand und wegging.
Sehr schnell, als würde es über den Boden fliegen. Es kümmerte sich um nichts. Duncan Sinclair war wiederhergestellt. Sein Geistkörper hatte den toten übernommen und ihn wie eine Maschine im wahrsten Sinne des Wortes zum Laufen gebracht.
Auch für mich war es kaum zu fassen. Ich wollte hinterher. Ich mußte es noch einmal versuchen. Diese Gestalt durfte nicht frei sein und weiterhin Unheil anrichten. Aber ich hatte die Rechnung ohne das Kind gemacht.
Es lag über mir und Suko, der sich gar nicht rührte. Auch das Mädchen stand in der Umklammerung des Schocks. Es konnte sich nicht bewegen, es war so bleich geworden. Weit geöffnete Augen starrten mich an. Wahrscheinlich durchlitt die Kleine all den Schrecken noch einmal in der Erinnerung.
Um aufstehen zu können, mußte sich mich von dem Kind befreien. Ich drückte das Mädchen zur Seite. Bei mir drängte die Zeit, denn Duncan Sinclair sollte keinen zu großen Vorsprung bekommen.
Ich richtete mich auf. Die Hände berührten das Mädchen. Ich achtete auch nicht darauf, daß mir ebenfalls einige Knochen weh taten; etwas anderes zog mich stärker in seinen Bann.
Das Gesicht des Mädchens zerfiel. Es verwandelte sich in eine Grimasse. In den Augen tanzte die Angst. Weit riß die Kleine ihren Mund auf. Dann schrie sie. Ja, sie schrie überlaut. Sie brüllte ihre Angst hervor, und sie klammerte sich dabei an mir fest.
Ich war für sie wie ein Rettungsanker, der auf keinen Fall verschwinden sollte. Ihre Schreie hallten gegen die Wände der alten Ruinen, sie kamen als Echos zurück, so laut und kreischend, als wollten sie Schmerzen in mir erzeugen.
Duncan Sinclairs Vorsprung vergrößerte sich. Ich hatte es mit dem Mädchen zu tun und versuchte, beruhigend auf die Kleine einzusprechen. Was ich dabei sagte, vollzog ich selbst nicht nach. Ich flüsterte die Worte in ihr Ohr, und ich schaffte es auch, daß sie sich beruhigte. Sie legte dabei den Kopf an meine Schulter und preßte ihren zitternden Körper gegen mich.
Der Haß auf Sinclair wuchs!
Er kannte überhaupt keine Regeln mehr. Er war brutal, er war abgebrüht. Er hätte selbst das Kind geopfert, um an sein Ziel zu gelangen. Das war für mich unbeschreiblich und auch unbegreiflich.
Erst jetzt bewegte sich Suko. Er war unglücklich aufgeprallt und benommen geworden. Stöhnend richtete er sich auf, die Hände gegen den Kopf gelegt.
Ich stieß ihn an. »Duncan ist weg!«
Suko begriff nicht sofort. »Was meinst du?«
»Der Tote war nicht tot.«
Mein Freund ließ seine Arme sinken. Plötzlich bekam sein Gesicht eine Gänsehaut. »Er war nicht tot?« flüsterte er. »Das kann doch nicht wahr sein. Wir haben…«
»Er hat sich durch seinen Geist regeneriert und ist verschwunden. Ich hatte keine Chance, ihn zu halten. Er ist stärker, als wir angenommen haben.«
»Auch das noch«, flüsterte Suko. Er tastete seinen Kopf ab. »Ich habe Pech beim Aufprall gehabt. Auf einmal ging die Welt unter. Das geschah urplötzlich.«
»Das habe ich gemerkt.«
»Und was ist mir dir?«
»Ich kann mich nicht beklagen.«
Suko streichelte über das blonde Haar des Mädchens. Es hatte sich noch immer nicht von mir gelöst, war aber ruhiger geworden. Hin und wieder sprach es von seiner Mutter, zog auch die Nase hoch, und ich sagte ihm, daß wir es zur Mutter bringen würden.
»Wie heißt du denn?« fragte ich dann.
»Helen.«
»Okay, Helen, wir werden gleich gehen. Und vor dem anderen brauchst du keine Angst mehr zu haben.«
»Er ist so böse«, sagte sie und fing wieder an zu weinen.
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