1039 - Die Stimme der Bruderschaft
verblüffte Nikkam. Es war zwar möglich, daß auch andere die Warnung der Lautsprecherstimme gehört hatten. Aber davon, daß Irgillyn in den letzten Sekunden seines Lebens die Bruderschaft mit seinem Tod in Verbindung gebracht hatte, wußten nur er selbst und Arzyria. Hatte Arzyria es für angebracht gehalten, die Nachrichtenmedien darüber in Kenntnis zu setzen?
Er stellte eine Bildsprechverbindung mit dem Ostflügel des Tärtras her, in dem Herzog Gu mit seinem Hofstaat residierte, und verlangte nach der jungen Kranin. Er erhielt abschlägigen Bescheid. Arzyria sei im Augenblick unerreichbar. Nikkam hinterließ seinen Namen. Er war ärgerlich. Das Schlimme mit Leuten in hohen Positionen war, daß sie immer Informationen haben wollten, aber nie selbst welche herausgaben.
Er nahm den Transmitter nach Häskent und traf zwei Stunden vor Mittag an seinem Arbeitsplatz ein. Während seiner Abwesenheit hatte Intschil die Aufsicht übernommen.
Es gab nicht mehr viel zu tun. Der Aufmarschplan stand fest. Die Mitglieder der Gruppe beschäftigten sich damit, ihre Plätze aufzuräumen. Es herrschte Aufbruchstimmung. Über das grausige Geschick, das Irgillyn befallen hatte, wurde nicht gesprochen.
Nikkam hatte erwartet, seine Mitarbeiter in gedrückter Stimmung vorzufinden, aber das war nicht der Fall. Irgillyn hatte offenbar nicht viele Freunde gehabt.
„Wir müssen das Labor bis achtzehn Uhr geräumt haben", sagte Intschil.
Ihre Worte schienen eine Aufforderung zu enthalten. Er musterte sie verwundert. „Ja, ich weiß. Warum, gibt es Probleme?"
„Jemand müßte Irgillyns Arbeitsplatz aufräumen", sagte sie.
„Hat das die Schutzgarde nicht besorgt?"
„Es war niemand von der Schutzgarde hier", antwortete Intschil.
*
Nikkam sah sich in der kleinen Arbeitszelle um. Sie wurde durch eine Leuchtplatte in der Decke erhellt und war mit karger Zweckmäßigkeit ausgestattet. Der übliche Arbeitstisch, ein paar Speicherregale, zwei zierliche Stühle, ein Datengerät, ein Interkom-Anschluß. Außerdem noch ein paar Kleinigkeiten, die ein Analytiker für seine Arbeit braucht. Nichts Persönliches. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage fragte sich Nikkam, was für ein Privatleben der Prodheimer-Fenke wohl geführt haben mochte.
Er öffnete die Laden der Speicherregale eine nach der ändern und durchsuchte ohne viel Interesse ihren Inhalt. Er fand Diagramme, Datenlisten, ein paar kleine Speicherscheiben - alles Dinge, die zur Tätigkeit des Analytikers gehörten wie die Schutzmontur zum Raumfahrer.
Er sah einen seiner Mitarbeiter an der offenen Tür vorbeigehen und rief ihn zurück. „Greif dir noch ein oder zwei Leute und räum hier auf, bitte", sagte er. „Das Zeug wird ..." Er stockte plötzlich.
„Ja?" sagte der andere.
„Ach was, das ist nicht so wichtig", meinte Nikkam wegwerfend. „Vergiß, was ich gesagt habe."
Der Mitarbeiter verschwand, sichtlich ein wenig verwundert. Nikkam zog das Stück Druckfolie aus der Lade, das seine plötzliche Sinneswandlung bewirkt hatte. Als er die Lade schließen wollte, hatte es sich aufgerollt, und auf seiner Rückseite war eine handschriftliche Notiz zum Vorschein gekommen. Nikkam zog die Folie hervor, breitete sie auf dem Tisch aus und glättete sie. Die Notiz war in ungelenken Buchstaben geschrieben und lautete: Bauwerk 4, Abschnitt D, Traverse 8, Bezirk Pävolaan, Nordstadt.
Eine Adresse also. Traversen wurden, besonders in älteren Stadtteilen, die Querstraßen genannt, die Hauptverkehrswege miteinander verbanden und zu diesen gewöhnlich senkrecht verliefen. Hatte Irgillyn dort gewohnt? Nein. Nikkam erinnerte sich, daß der Prodheimer-Fenke, seitdem er seiner Gruppe zugewiesen worden war, ein Appartement an der Grenze des Bezirks Merdaris bewohnt hatte - demselben Bezirk, in dem sich auch Nikkams Wohnpyramide befand.
Pävolaan! Östlich an Meriaris angrenzend, eine heruntergekommene Gegend, von den Hochstraßen gemieden, bevölkert von Wesen, die es aus dem einen oder anderen Grund nicht fertigbrachten, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Was hatte Irgillyn in Pävolaan verloren?
Nikkam setzte das kleine Datengerät in Betrieb. Er aktivierte die Auskunftsdatei und hatte kaum eine Sekunde später ein Kartenbild der Gegend vor sich, die die Adresse bezeichnete. Die Traverse 8 begann unmittelbar an der Westgrenze des Bezirks.
Zwischen Pävolaan und Merdaris zog sich an dieser Stelle ein Grasstreifen hin von einem Kilometer Breite, und hoch über diesem
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