1045 - Zombie-Eulen
Sie will was von dir, denn sie hat auf dich gewartet und nicht umgekehrt.
Zunächst einmal holte er einige Male tief Luft, um sich zu beruhigen. Seine erste Furcht verschwand. Der Atem ging wieder regelmäßiger. Er traute sich aber nicht näher und wußte jetzt, wo er wieder er selbst war, daß diese Person auf dem Grab seiner Frau kein normaler Mensch war. Sie war anders. Sie war auch gut zu erkennen, weil sie irgendwie leuchtete.
Der Pfähler sah es erst jetzt, denn ihr Körper war recht hell. Und dieses Leuchten verteilte sich vom Kopf bis zu den Füßen. Sehr schwach nur. Es hatte schon so dunkel sein müssen, um es überhaupt zu sehen. Dennoch war die Person keine feinstoffliche Erscheinung. Sie sah aus wie ein Mensch, der sogar Kleidung trug, auch wenn sie sehr dünn und leicht verweht wirkte.
Sie war nicht einfach so gekommen, sondern hatte eine Botschaft zu überbringen. Das hörte Marek in den nächsten Sekunden, als er angesprochen wurde.
Es war eine normale und trotzdem keine normale Stimme. Sie war vorhanden, sie war zu hören, sie war irgendwo nah und trotzdem auf eine Weise weit entfernt. Sie schien sich auch im Raum zwischen ihnen beiden zu verlieren. Marek strengte sich an, um die Stimme überhaupt verstehen zu können.
Als weiches Flüstern erreichte sie sein Gehör. »Ich bin erschienen, um dich zu warnen, Pfähler.«
»Du kennst mich?«
»Ja.«
»Vor wem willst du mich warnen?«
»Davor, daß du versagst, denn es ist wieder passiert. Ich habe es nicht verhindern können.«
Marek wußte, wovon die Erscheinung sprach. Trotzdem fragte er nach. »Du meinst den Raub des Kindes?«
»Auch ihn. Aber sprich nicht in der Einzahl. Es geht um viele Kinder, denk daran.«
»Ja, davon habe ich gehört. Aber wer bist du? Warum kennst du dich so gut aus?«
»Ich bin Genova…«
Marek hob die Schultern. »Es tut mir leid, aber mit dem Namen kann ich nichts anfangen.«
»Das weiß ich. Es ist auch lange her, daß ich so normal lebte wie du, Marek.«
Der Pfähler ging darauf nicht ein. Er fragte weiter. »Und was hast du getan?«
»Versagt.«
Marek war überrascht, denn mit diesem Geständnis hatte er nicht gerechnet. »Versagt? Warum hast du versagt? Was ist mit dir passiert?«
»Ich konnte die Kleinen nicht beschützen, schon damals nicht. Es war mir nicht möglich.«
»Du sprichst von Kindern?«
»Ja, nur davon.«
»Und wer bist du für sie gewesen?«
»Die gute Fee. Sie waren bei mir. Sie wurden erzogen, sie wurden gepflegt. In meinem Heim habe ich all die Waisen aufgenommen und für sie gesorgt. Ich wollte nicht, daß sie unter die Räder kamen, und ich habe meine Oberin gebeten, mir Räume zur Verfügung zu stellen, was auch geschah.«
»Du bist in einem Kloster?«
»Ich war dort, Marek. Vor langer Zeit. Aber die andere Seite war stärker, viel stärker, und auch grausamer. Sie nahmen mir die Kinder. Sie haben sie geraubt wie heute. Sie wurden einfach von ihnen mitgenommen, und ich konnte nichts dagegen tun.«
Allmählich sah Marek Licht am Ende des Tunnels. »Wer sind sie denn gewesen?« fragte er.
»Hexen!«
Mit dieser Antwort hatte der Pfähler nicht gerechnet. »Moment mal. Ich glaube, wir sprechen hier von zwei verschiedenen Dingen. Ich habe es mit Eulen zu tun gehabt und nicht mit Hexen. Das ist doch wohl ein Unterschied, denke ich.«
»Nein, nur im ersten Augenblick. Für dich mag es so sein. Die Hexen und Eulen sind gleich. Man hat die Hexen in Eulen verwandelt.«
»Wer?«
»Wer auch immer«, erwiderte sie orakelhaft. »Du mußt mir glauben. Ich weiß genau, daß die verfluchten Hexen mit ihrem Los nicht zufrieden sind. Sie können sich als Waldeulen nicht wohl fühlen, und sie wollen ihren alten Zustand wieder zurückhaben.«
»Wie machen sie das?«
»Ich weiß es nicht genau«, flüsterte die Erscheinung. »Aber nur Kinder können ihnen wohl die alte Gestalt zurückgeben. So habe ich es erfahren, und ich glaube daran.«
»Nur Kinder«, murmelte Marek. Er nickte vor sich hin. »Und du hast es nicht geschafft, sie zu beschützen?«
»So ist es.«
»Und was ist jetzt mit dir?«
»Ich existiere noch immer.«
Marek nickte. »Ja, das sehe ich. Du existierst. Ich aber frage mich, ob ein Mensch vor mir steht oder eine Person, die nur menschlich aussieht und tatsächlich etwas anderes ist.«
»Ich bin es nicht. Ich bin es doch. Ich kann nicht meinen Frieden finden. Es ist mein Gewissen, das mich nicht zur Ruhe kommen läßt. Ich muß immer an die Kinder denken, an mein
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