1046 - Der Hexenturm
Schicksal an ihr hängt wie ein Fluch. Als sie noch normal lebte, hat sie schon einmal versagt. In ihrem Waisenhaus hat sie nicht verhindern können, daß eben die verdammten Hexen-Eulen ihr die Kinder raubten. Diese Tatsache hat sie auch als Tote nicht zur Ruhe kommen lassen. Marek hat sie gesehen, ich habe sie gesehen. Sie erschien uns auf dem Weg nach oben, ist aber dann verschwunden.«
»Für immer?«
»Das hoffe ich nicht.«
Bill verdrehte die Augen. »Wir können doch nicht auf sie warten, John, das ist zu unsicher.«
»Genau das ist das Problem.«
»Was also tun?«
»Ich warte hier.« Bevor Bill protestieren konnte, sprach ich weiter. »Ich helfe euch, die Kinder ins Auto zu schaffen. Dann kehre ich zurück und warte nicht nur auf sie, sondern auch auf die Eulen. Vielleicht ist das falsch gedacht und…«
»Bestimmt«, unterbrach mich Bill. »Du hast falsch gedacht. Wo die Kinder sind, da wirst du auch die Eulen finden, auch wenn wir sie jetzt nicht sehen.«
Zwei Meinungen standen sich gegenüber. Marek und der blinde Palu hatten zugehört, ohne einen Kommentar abzugeben. Gerade Palu mußte ebenfalls Hilfe bekommen. Allein würde er den Wagen nicht erreichen.
Die kleine Jana fing an zu weinen. Ihre Mutter sprach leise auf sie ein.
Sie sang ihr sogar ein Lied, während der nächtliche Wind kalt um die Mauern des Turms wehte und auch uns frieren ließ, denn wir waren zu dünn angezogen.
Ich hatte das Kreuz offen vor meine Brust gehängt. Es schimmerte in mattem Silberglanz, doch von einer Erwärmung durch den Stoff des Pullovers hindurch spürte ich nichts.
Auch am Himmel war eine Veränderung eingetreten. Das Wetter stand vor einem Wechsel. Es war klarer geworden. Der Wind hatte die Dunstschwaden vertrieben und über uns die Formation der Wolkenbänke aufgerissen. Es gab jetzt mehr blanke Stellen am Firmament. So blank, daß wir den Mond sehen konnten, der dabei war, seine ganze Fülle zu erhalten, aber noch nicht als Vollmond schien.
Marek sprach mich an. »Wir sollten uns entscheiden, John. Viel Zeit haben wir nicht mehr.«
»Ja, ich weiß«, gab ich stöhnend zurück. »Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, daß es die beste Möglichkeit sein soll, wenn wir die Kinder zum Auto bringen.«
»Sind sie hier sicherer?«
»Nein.«
»Was hast du also dagegen?«
Ich wußte es selbst nicht. Gewisse Dinge liefen einfach zu quer. Es war auch die Ruhe, die mir mißfiel. Auf mich wirkte sie einfach zu gespenstisch.
Ich schaute in die Gesichter der kleinen Kinder. Sie sahen so entspannt aus. Unsere Jacken wärmten die Körper. Sie waren darin gut eingewickelt worden.
Nicht weit entfernt lag der Friedhof. Die hohen Grabsteine, die man besser als kantige Säulen ansah, schimmerten feucht. Unter der Erde lagen die Pirnescus, denen früher die Burg gehört hatte. Es gab sie nicht mehr. Sie waren Vergangenheit, aber die hatten die Hexen ihrer Meinung nach vernichtet, ohne jedoch zu wissen, daß sie als Hexen-Eulen zurückkehren würden.
Etwas trieb mich an, auf den Friedhof zuzugehen. Erstaunte Blicke begleiteten meine ersten Schritte bevor eine Frage gestellt werden konnte, bat ich meine Freunde um ein paar Minuten Geduld. Ich wollte mir den Friedhof noch einmal ansehen. Er lockte mich, als wäre dort jemand verborgen, der auf mich wartete.
Der Wind fuhr durch den Stoff des dunklen Pullovers. Das Kreuz drückte leicht gegen meine Brust. Die Beretta hielt ich in der rechten Hand, dabei wies die Mündung nach unten. Auf dem Boden schimmerte das alte, feuchte Laub vom Vorjahr. Das Material der Grabsteine war verwittert.
Sie zeigten beim genauen Hinsehen Risse. Namen waren dort nicht zu lesen, aber ich zollte dem Geschlecht Respekt, weil gerade diese Menschen sich gegen die Brut aufgelehnt hatten.
Der blasse Schein des noch nicht ganz vollen Mondes hatte dem Friedhof einen fahlen Glanz verliehen. Er sah aus wie eine Kulisse.
Selbst mir fiel es etwas schwer, ihn der Wirklichkeit zuzuordnen.
Ich erreichte den ersten Grabstein und blieb stehen. Etwas hatte sich verändert, ich spürte es genau, konnte aber nicht herausfinden, was es letztendlich war.
Ich ging weiter. Der Friedhof nahm mich auf. Grabsteine schoben sich als Deckung zwischen mir und die Freunde. Keiner von ihnen hatte den Versuch unternommen, mich zurückzuhalten. Es war mir auch niemand gefolgt. Diesen Weg ging ich allein.
Ohne es eigentlich gewollt zu haben, blieb ich stehen. Etwas hatte mich daran gehindert, weiterzugehen. Ich
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