1046 - Der Hexenturm
nicht. Und ihr sollte ich plötzlich vertrauen?
Sie hatte wohl meine Überlegungen nachvollzogen. Sie versuchte deshalb, mich auf den richtigen Weg zu bringen und sagte mit leiser Stimme: »Du solltest nicht an dich, sondern nur an die armen Kinder denken. Auch wenn ihr sie wieder zu ihren Eltern zurückbringt, die Gefahr, daß sie erneut entführt werden, bleibt bestehen. Allein dieses Wissen sollte es dir wert sein, einen letzten Versuch zu starten und mir das Kreuz zu überlassen.«
Von der Kälte auf dem Friedhof war nichts mehr zu spüren. Mich durchfloß ein Hitzestrom. Ich war innerlich aufgewühlt und streckte noch immer in der Klemme.
»Bitte«, sagte die Nonne leise. »Gib es mir im Namen der Kinder und auch deshalb, damit ich endlich meinen Frieden finde. Erst wenn es die Hexen-Eulen nicht mehr gibt, kann ich in Ruhe in die Ewigkeit eingehen. Es liegt an dir.«
Ja, es lag an mir. Es kam wieder einmal einzig und allein auf mich an.
Ich wußte noch nicht, wie ich mich entscheiden sollte. Genova spürte meinen innerlichen Zwiespalt. Sie ließ mich in Ruhe nachdenken. Es verging natürlich Zeit nur kam es mir vor, als wäre ich einfach zeitlos. Ich stand da, ohne es zu merken.
»Wie lange willst du noch warten?« hörte ich sie fragen.
»Gar nicht mehr.«
»Dann hast du dich entschieden?«
»Ja.«
»Wie?«
Die Nonne hatte den Kopf angehoben, damit ich ihr ins Gesicht schauen konnte. In den Augen entdeckte ich keinen Argwohn und auch keine Hinterlist, und gelogen hatte ich auch nicht, denn meine Entscheidung war gefallen. »Du wirst das Kreuz bekommen, Genova, denn auch ich denke nur an die Kinder.«
»Es ist wohl eine der besten Entscheidungen gewesen, die du in deinem Leben getroffen hast.«
Das sagte sie. Ich war davon nicht hundertprozentig überzeugt. In diesem Fall schien es wirklich die beste Lösung zu sein. Wäre auch nur ein Kind gestorben oder hätte es auch nur sein Augenlicht verloren, dann hätte ich mir bis an mein Lebensende Vorwürfe gemacht. Außerdem war die Nonne keine Diebin. Auch im normalen Leben hatte sie auf der Seite des Guten gestanden.
Sie schaute zu, wie ich die Kette über den Kopf streifte. Nicht zu schnell, auch nicht zu langsam, sondern normal. Es glitt noch einmal durch meine Handflächen, dann hielt ich es so, daß die Nonne es greifen konnte.
Genova nahm das Kreuz an sich. »Danke«, sagte sie.
Ich schaute auf ihre Hand. Stünde sie auf der anderen Seite, hätte das Kreuz längst reagiert. Das passierte nicht, denn es lag der Breite nach auf den Handtellern, als hätte es der Nonne schon immer gehört. Kannte sie es vielleicht?
Genova hob den Kopf an. Auf ihren kaum erkennbaren Lippen lag ein Lächeln. »Sei froh, daß du es besitzt.«
»Kennst du es?«
»Nein, nicht direkt, aber es gibt alte Geschichten, die davon berichten. Hier auf dem Balkan ist es einmal gewesen und…«
»Das stimmt«, sagte ich. »Eine Verena Monössy hat es mir überlassen. Eine alte Zigeunerin. Sie verwahrte es, und es hat einen langen Weg durch die Jahrhunderte hindurch hinter sich…«
»Sei jetzt ruhig, bitte, und überlasse alles mir.«
»Gut.« Das gefiel mir zwar nicht, aber was sollte ich sonst machen? Die Nonne bat mich darum, Platz zu schaffen und etwas zurückzutreten, was ich auch tat.
»Bleib am letzten Grabstein stehen«, flüsterte sie mir noch zu. Dann war ich für sie gestorben, denn von nun an existierte nur mein Kreuz. Es lag noch immer wie ein kostbares Kleinod auf ihren Händen, aber es »meldete« sich nicht, wie es bei mir oft genug der Fall war. Es behielt seine Energie noch im Innern fest und war nicht aktiviert worden.
Mir schoß ein verrückter Gedanke durch den Kopf, der eigentlich nicht so verrückt war, wenn ich näher darüber nachdachte. Diese Nonne wußte einiges über das Kreuz. War ihr dann auch bekannt, wie es sich aktivieren ließ?
Ich schloß in diesem Fall nichts mehr aus.
Es ging weiter.
Genova bückte sich. Dabei drückte sie sich auch in die Knie, legte die Hände schräg, damit das silberne Kreuz von ihren Handflächen her zu Boden gleiten konnte.
Genova fing es nicht auf. Sie ließ es auf dem feuchten Boden liegen. Es hob sich deutlich vom dunkleren Untergrund ab.
Die Nonne kniete sich hinter das Kreuz. Sie war ganz ruhig, senkte ihren Körper, als wollte sie meinen Talisman mit der Stirn berühren und schob sich wieder hoch.
Sie sah jetzt aus, als hätte sie sich zum Gebet innerlich gesammelt.
Nach einigen Sekunden richtete
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