1049 - Der Geist des Vaters
werde dich nicht zerstören. Wir beide warten gemeinsam auf den Abholer.«
»Was wirst du tun, wenn er hier erscheint? Wie wirst du ihm begegnen?«
Ich lächelte mokant und schüttelte dabei den Kopf. »Tut mir leid, aber das weiß ich selbst noch nicht. Ich gehöre zu den Menschen, die erst einmal alles an sich herankommen lassen und entscheiden, wenn es soweit ist. Außerdem habe ich nicht vergessen, daß sich um den Tod meines Vaters noch ein Geheimnis rankt. Es gibt da Dinge, die einer Aufklärung bedürfen. Dafür möchte ich mich stark machen.«
Die Figur schwieg. Das wunderte mich schon etwas, denn sie war doch recht gesprächig gewesen.
Es konnte natürlich sein, daß sie noch einen Trumpf im Ärmel hatte, aber daran wollte ich nicht denken. Es war wirklich besser, alles auf sich zukommen zu lasen.
Sehr vorsichtig faßte ich mein Kreuz an und löste die Verbindung zur Figur.
Wieder geschah das gleiche. Das Gesicht verschwand. Zurück blieb die glatte, einförmige Fläche, was mich jedoch nicht störte, denn durch das Kreuz konnte ich jederzeit die Gesichtszüge des Lalibela zurückholen.
Das Kreuz hängte ich mir um, als ich die Küche verließ und durch das stille Haus zum Arbeitszimmer meines verstorbenen Vaters ging. Die Tür lag nicht weit vom zerstörten Fenster entfernt. Als ich sie öffnete, schlug mein Herz schneller, weil mich wieder die Erinnerungen überfielen. Wie oft hatte ich hier auf der Schwelle gestanden und meinen Vater in seinem Zimmer vor dem Schreibtisch sitzen sehen.
Ich machte Licht.
Der Raum war leer.
Ein leerer Stuhl, die leeren Sessel, ein Schreibtisch, auf dem noch Papiere lagen. Dazwischen das Telefon. An der Wand standen die Regale. Sie waren mit Büchern gefüllt, die sich aneinander preßten.
Das Fenster war geschlossen. Die Scheibe sah aus, als wäre sie mit dunklem Wasser gefüllt. Innerhalb des Raums lag ein bestimmter Geruch, der nichts mit dem Staub zu tun hatte, den ich ebenfalls überall sah. Er hatte sich im Laufe der Zeit angesammelt und bedeckte alles wie eine pudrige Schicht.
Den Sitzplatz konnte ich mir aussuchen. In einen der hochlehnigen Sessel wollte ich nicht. Mein Vater hatte sehr oft hinter dem alten Schreibtisch gesessen. In Erinnerung an ihn wollte ich diesen Platz einnehmen.
Die Figur legte ich auf die Platte dicht neben dem Telefon. Dann ging ich wieder zurück in die Küche, nahm das Schwert mit und löschte beim Hinausgehen das Licht.
Auch im Eingangsbereich blieb es dunkel. Das Licht aus dem Arbeitszimmer reichte aus, um mir den Weg zu zeigen. Nachdem ich es wieder betreten hatte, schloß ich die Tür, zog sie aber nicht zu.
Ich ließ sie fingerbreit offen..
Auf dem Schreibtisch stand auch eine Leuchte. Über dem Messingständer war ein dunkler Schirm angebracht, der von innen jedoch hell lackiert worden war. Deshalb wurde der helle Schein auch auf die Schreibtischplatte geworfen.
Das Deckenlicht schaltete ich aus und ließ nur die Leuchte auf dem Schreibtisch brennen. Meinen Platz fand ich auf dem Stuhl, auf dem früher mein Vater gesessen hatte.
Natürlich überkamen mich die Erinnerungen. Ich hatte den Tod meiner Eltern auch jetzt nicht überwunden. Außerdem wurde ich immer wieder durch die befremdlichen Ereignisse daran erinnert.
Wie es mir jetzt auch widerfahren war.
Mein Vater war tot. Ich hatte an seinem Sarg Wache gehalten und hatte später zugesehen, wie sein Sarg in die Erde sank. Aber war er tatsächlich tot?
Sein Körper lag in der Erde. Er würde irgendwann völlig verfault sein. Das war eben der Tod. Allerdings nur der körperliche. Ein Geist oder eine Seele starben nicht.
Genau darauf spekulierte ich. Etwas war von ihm zurückgeblieben, ebenso wie von Lalibela. Dabei hoffte ich nicht, daß der eigene Vater zu einem mordenden Schatten geworden war. Schatten, die das Blut ihrer Opfer verspritzten.
Ehemalige Engel. Oder jetzt noch Engel. Wesen, die Lalibela stets beschützt hatten, und das von der Geburt an.
Beschützten sie auch meinen Vater? Waren sie in der Nähe dessen, was überlebt hatte?
Je länger ich darüber nachdachte, um so mehr stellte ich mich auf eine Begegnung mit ihm ein. Auf ein Wiedersehen mit einem Toten, wie auch immer.
Der Gedanke daran ließ mich schaudern. Nicht weil es zu der Begegnung kommen konnte, ich hatte oft genug mit lebenden Leichen und ähnlichen Kreaturen zu tun gehabt. Nein, es ging darum, daß es mein eigener Vater war, den ich begraben hatte. So abgebrüht konnte ein Mensch
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