1049 - Der Geist des Vaters
Sommer mit frischen Blumen. Die Kreuze und Grabsteine umgaben mich als stumme Zeugen. Kahle Bäume bildeten keinen Schutz mehr. Manche von ihnen sahen aus, als wären sie als große Skelette aus der Erde geklettert.
Es war still auf dem Gelände. Nur ich störte die Ruhe. Das Knirschen der Schritte auf dem kleinen Gestein, mit dem die meisten Wege belegt waren, konnte einfach nicht überhört werden.
Der Weg zum Grab meiner Eltern war nicht sehr weit. Für sie war ein Doppelgrab geschaufelt worden, und das Grab hatte auch vor kurzem einen Stein bekommen.
Ich hatte ihn selbst ausgesucht. Dazu war ich nicht nach Lauder gefahren. Ich hatte mich auf die Abbildung in einem Katalog verlassen. In kurzer Zeit würde ich den Stein zum erstenmal in natura sehen.
Es war schon ein verdammtes Gefühl, bei Dunkelheit das Grab der Eltern zu besuchen. Den Fall hatte ich vergessen. Mein Kopf war schwer von Erinnerungen. Da wirbelten die Bilder durcheinander. Sie stiegen in mir hoch, ohne daß ich es wollte.
Ich sah mich als Kind, als Jugendlicher. Mit den Eltern in Urlaub oder einfach nur zu Hause. Wie oft hatten sie mich beschützt, wenn ich irgendwelchen Mist gebaut hatte. Das alles, diese Gedanken, erlebte ich immer und immer wieder. Es dauert eben seine Zeit, bis man sich von geliebten Menschen gelöst hat. So stark wie jetzt hatten mich die Erinnerungen in der letzten Zeit selten überfallen. Da waren sie vergleichbar mit den nicht lange zurückliegenden Alpträumen.
Mir war gar nicht aufgefallen, daß ich die beiden Gräber erreicht hatte. Erst als ich davor stand, erwachte ich wie aus einem tiefen Traum und hob den Kopf an.
Vor mir lag ein Viereck. Mehr breit als lang. Und am Ende der Grabstätte malte sich der Stein ab.
Ein schlichter aus Marmor. Ich hatte keinen Prunk gewollt. Ein dunkles Material und in seinem Innern versehen mit helleren Einschlüssen.
Das Schwert hatte ich gegen einen sperrigen Busch gelehnt. Hinter mir befand sich die Friedhofsmauer. Vor mir lag der Friedhof wie auf dem Tablett präsentiert, jedoch überzogen mit dem Schleier der Dunkelheit.
Das Herz war mir schwer geworden. Ich glaubte einen Kloß in der Kehle zu haben. In den Augen spürte ich die Feuchtigkeit, und ich saugte den Atem scharf durch die Nase ein. Auf meine Haut hatte sich eine zweite gelegt, die auch so schnell nicht weichen würde.
Die Namen auf dem Grabstein waren wegen der schlechten Lichtverhältnisse nicht zu lesen. Aber ich wollte sie sehen, holte die kleine Lampe hervor und ließ den scharfen Strahl langsam über die Grabfläche wandern. Dabei wurde die Bepflanzung aus der Dunkelheit hervorgerissen. Noch lagen die Tannenzweige auf der Fläche, aber es waren auch Stiefmütterchen gepflanzt worden, die auch einen kalten Winter überstehen würden, wie man mir gesagt hatte.
Ich ließ das Grab von einem Gärtner in Lauder pflegen.
Der kleine Lichtkegel wanderte weiter und erreicht den Grabstein. Daran kroch er hoch, so daß ich sehr bald die ersten Buchstaben sah, die in das Material eingemeißelt worden waren.
Ein Kreuz teilte die Namen.
Rechts von ihm stand der Name meines Vaters. Vereint mit dem Geburts- und dem Sterbedatum. An der linken Seite las ich Mary Sinclair. Dort hatte meine Mutter ihre ewige Ruhe gefunden, und das gönnte ich auch von ganzem Herzen meinem Vater. Ich war bereit, alles zu tun, um dies zu erreichen.
Ein Grab der Sinclairs!
Es war nicht das einzige hier. Weiter im Norden gab es noch mehr alte Gräber mit diesem Namen.
Ich hatte sie auch schon gesehen, vor ihnen gestanden, doch bei diesen Gräbern war ich nicht so persönlich betroffen. Darin lagen meine Vorfahren, und sie hatten zudem zu den Templern gehört.
Das war eine andere Geschichte, die leider noch zu viele Rätsel in sich barg. Aber eines war geblieben. Der Fluch der Sinclairs. Ich hatte zunächst nicht daran glauben wollen, doch leider war er in Erfüllung gegangen, und ich war als letzter zurückgeblieben und zugleich Besitzer des Kreuzes.
Ich leuchtete das Doppelgrab ab. Der Strahl huschte auch über die an den Seiten angebrachten Kantsteine hinweg und sorgte bei ihnen für einen mondhellen Schimmer.
Ein normales Grab. Nichts, was mich hätte mißtrauisch machen können. Und trotzdem hoffte und wollte ich, daß es mir auf irgendeine Art und Weise Antwort darauf gab, was mit meinem Vater tatsächlich passiert war. Vor und unter mir lag sein Körper. Aber was war mit seiner Seele geschehen?
War es schon zu einer Art von
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