105 - Das indische Tuch
ich nicht.«
»Dann kann ich Ihnen vielleicht heute abend mehr darüber sagen.« Tanner sah nach der Uhr und war erstaunt, daß es schon so spät geworden war. Die Dunkelheit brach bereits herein, und er hatte unten im Dorf noch viel zu tun.
»Heute morgen habe ich mich nur oberflächlich für diesen Fall interessiert, Lady Lebanon. Höchstens wollte ich Genaueres über Amersham erfahren. Aber jetzt hat die Affäre weitere Kreise gezogen, und auch Sie und dieses ganze Haus sind in die Sache verwickelt.«
Er ging zum Schreibtisch.
»Haben Sie den Schlüssel zu dem Zimmer, das niemals geöffnet wird, wie Sie behaupten?«
Sie schien die Frage überhört zu haben.
»Nun gut, Lady Lebanon«, sagte er plötzlich, »ich bemühe Sie wahrscheinlich unnötig, aber ich hätte doch gern das verschlossene Zimmer oben gesehen. Ich muß viele Fragen stellen, und mein Beruf bringt es mit sich, daß ich neugierig erscheine. Vielleicht täusche ich mich auch in der Annahme, daß die Macht, die Dr. Amersham über Sie ausübte, etwas mit dem verschlossenen Raum zu tun hat. Habe ich recht?«
»Die Sache hat – mit meiner Vergangenheit zu tun.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Es hat Sie große Mühe gekostet, das zu sagen – und es entspricht nicht einmal der Wahrheit. Sie gehören zu den Leuten, von denen man manchmal in den Büchern liest: Sie sind adelsstolz.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Übrigens müssen Sie doch selbst eine geborene Lebanon sein?«
Diese Worte machten einen merkwürdigen Eindruck auf sie. Plötzlich sah sie wieder imposant und glänzend aus, und etwas von ihrer früheren Schönheit zeigte sich in ihren Zügen.
»Wie merkwürdig, daß Sie das herausgefunden haben«, entgegnete sie freundlich. »Ja, ich bin eine geborene Lebanon und heiratete meinen Vetter. Ich stamme in direkter Linie von dem vierten Baron Lebanon ab.«
»Erstaunlich!«
»Die Familie ist seit den ältesten Zeiten bekannt. Bevor es noch eine Geschichte von England gab, existierte schon eine Geschichte der Lebanons, und das wird so bleiben – das muß so bleiben! Es wäre entsetzlich, wenn die Linie aussterben sollte!«
Die letzten Worte hatte sie pathetisch gesprochen.
»Für heute möchte ich mich von Ihnen verabschieden, Lady Lebanon«, erwiderte er. »Aber morgen komme ich wieder, ich kann es nicht ändern.«
Als er am Fuß der Treppe stand, sah er zufällig nach oben und bemerkte Isla Crane. Sie hatte den Finger auf die Lippen gelegt und winkte ihm dringend.
Anscheinend gleichgültig stieg er die Treppe hinauf. Isla faßte ihn am Arm.
»Mr. Tanner, Sie wollen doch nicht das Haus verlassen?« fragte sie verstört. »Um Himmels willen, bleiben Sie hier!«
Er fühlte, daß sie zitterte. Langsam machte er sich von ihr frei und ging wieder die Treppe hinunter.
»Ich werde das Auto bestellen, damit Sie nach dem Gasthaus fahren können«, sagte Lady Lebanon.
Tanner sah sie freundlich an.
»Verzeihen Sie, aber ich habe meine Absicht geändert. Ich bleibe heute nacht hier. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, Lady Lebanon.«
Einen Augenblick schaute sie ihn wütend an, dann drehte sie ihm plötzlich den Rücken zu und verließ die Halle.
»Was hat denn das zu bedeuten, Mr. Tanner?« fragte Totty.
»Das sage ich Ihnen besser morgen.«
Der Sergeant holte tief Atem.
»Sie glauben wohl, Sie können einen interessanten Abend in diesem Spukhaus verbringen? Ich bin anderer Ansicht!«
20
Ein Motorradfahrer der Polizei lieferte vor dem Abendessen ein flaches Paket an den Chefinspektor ab, das die gewünschten Listen enthielt. Tanner las sie sorgfältig durch, kreuzte dann eine Zeile an und wußte, daß er richtig gewählt hatte. Es war ein Zug, der von Horseham nach London Bridge fuhr, und Horseham lag nicht allzu weit von Marks Priory entfernt. Jedenfalls konnte man mit dem Rad hinkommen.
Es gab nicht viel Züge, die um zehn Uhr morgens abfuhren und am nächsten Morgen um zehn Uhr fünf ankamen, und sie fuhren nicht nach dem Kontinent. Darunter befand sich einer, der in London um zehn Uhr abging und um zehn Uhr fünf in Aberdeen eintraf. In einem Nachschlagewerk fand Tanner, daß Lady Lebanon zehn Meilen von Aberdeen entfernt ein kleines Jagdhaus besaß. Zweifellos war das Tillings Ziel.
Er telefonierte nach London, daß die Polizei in Aberdeen gewarnt werden sollte. Tilling hatte aber inzwischen schon auf einer Station in Schottland ein Telegramm erhalten und den Zug verlassen. Über Edinburgh war er nach
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