1052 - Die Nekropole
gab ihn zweimal, und wahrscheinlich konnte der zweite sein Grab in der Erde verlassen.
Eine Lösung würde ich kaum erhalten. Zudem war sie im Moment nicht wichtig. Es zählte zunächst die zweite Gestalt des Jungen. Er schaute uns sehr ernst an. In seinen Augen tat sich etwas. Sie bekamen Leben. Es war so etwas wie ein Hinweis, der sich dort abzeichnete. Das Licht unserer Lampen strahlte ihn an, aber es fing sich nicht auf seinem Gesicht und wurde auch nicht reflektiert. Ein Teil davon strahlte durch den Kopf hindurch.
Er bewegte ihn jetzt. Es war eine Kontaktaufnahme. Eine typische Bewegung zur Seite, die dafür sorgen sollte, daß wir ihm folgten. Er drehte sich auch um, wir sahen seinen Rücken. Einen Augenblick später setzte er sich dann in Bewegung. Wir gingen ihm nach. Unsere Schritte waren zu hören, nicht die des Jungen. Zwar sah es so aus, als berührten die Füße den Boden, aber so ganz glauben konnten wir es nicht, da wir nichts hörten.
»Jetzt wird es spannend«, flüsterte Suko mir zu.
»Hoffentlich.«
»Was meinst du damit?«
»Nun ja, ich hoffe, daß er uns dorthin führt, wo wir auch hinwollen. Zu den Kindern.«
»Ein Wunschtraum, John.«
»Deiner nicht?«
»Schon, aber…«, er hob die Schultern an. »Na ja, lassen wir uns überraschen.«
Zumindest ich wunderte mich darüber, wie tief der Stollen in die Wand hineinstieß. Endlos war er sicherlich nicht, und so wartete ich voller Spannung auf ein Ziel, das hoffentlich dort lag, wo sich auch die geraubten Kinder befanden.
Der Junge vertraute uns. Er drehte sich nicht einmal um. Er präsentierte uns seinen Rücken. Ich fragte mich, was ihn zu diesen Handlungen trieb, und durch meinen Kopf blitzten zahlreiche Gedanken und Theorien. Der Junge vor uns konnte der Geist des begrabenen anderen sein. Vielleicht auch so etwas wie ein Schutzengel, den ein schlechtes Gewissen quälte. In alter Zeit mußte er gelebt haben. Dort hatte er dann auch versucht, andere Kinder zu retten, was ihm nicht gelungen war. Das versuchte er jetzt nachzuholen.
»Wir sind gleich da!« murmelte Suko.
Er hatte recht. Die Wände an den Seiten waren schon verschwunden, und die Strahlen der Lampen leuchteten hinein in eine sehr große Höhle, deren Seite wir nicht sahen, da sie zu weit entfernt standen und von der Finsternis verdeckt wurden.
Der Junge ging noch immer weiter. Er hatte jetzt seine Schultern angehoben, hielt die Arme angewinkelt und die Hände dabei ausgestreckt. So deutete er auf den Boden, und diese Bewegungen gaben uns bekannt, daß er uns etwas zeigen wollte.
Wir leuchteten an ihm vorbei. Das Licht traf die einzelnen Ziele, die sich in gewissen Zwischenräumen auf dem Boden abzeichneten.
Köpfe.
Gesichter!
Tote, leere Augen. Wie wir es schon einmal gesehen hatten. In dieser Höhle war ein großer Kinderfriedhof versteckt. Er mußte über 2000 Jahre alt sein, denn alle aus dem Boden schauenden Gesichter waren so bleich wie das Gesicht des Jungen im Gang.
Der Junge ging nicht mehr weiter. Vielleicht acht bis zehn Meter war er von uns entfernt. Er hatte sich auch wieder gedreht und breitete seine Arme aus wie ein Priester, der vor dem Altar steht, um seiner Gemeinde etwas zu zeigen.
Er meinte den Friedhof.
Ich leuchtete nach links, Suko nach rechts. Die Enden der Strahlen glitten als Kegel über den Boden und tanzten auch über die Gesichter hinweg.
Ich hatte zuerst noch versucht, all die Köpfe zu zählen, es dann gelassen, weil es zu viele waren.
Ein großes Kindergrab lag vor uns. Noch in einer tiefen Ruhe. In mir steckte eine große Unruhe, weil ich mir vorstellte, daß dies nicht mehr so blieb. Es würde und es mußte etwas passieren. Die Zeit war einfach reif dafür.
»Die Kinder haben wir«, sagte Suko und hatte genau das richtige ausgesprochen. »Aber wo sind die echten, die lebenden?«
»Sie müssen hier irgendwo sein.«
»Willst du den Jungen fragen?«
»Nein, aber wir werden sie finden.«
Die schmale Gestalt mußte uns verstanden haben, anders konnte ich mir ihre Reaktion nicht vorstellen. Mit einer Hand gab sie mir einen Wink, mit der anderen winkte sie ab. Diese Geste galt Suko, der nicht mitgehen sollte.
Das paßte ihm nicht. »Was hat er vor?«
»Er will mir etwas zeigen.«
»Und mir nicht?«
»Scheint so.«
»John, das gefällt mir nicht. Das ist…«
»Er wird seine Gründe haben. Wir sind hier die Lehrlinge. Er ist der Meister.«
Wieder bewegte der Junge seine Hand. Diesmal sogar ungeduldiger, wie ich fand.
»Ich
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