1052 - Die Nekropole
nicht zu erkennen.
»Was sagst du?«
Ich lachte leise. »Daß wir einen Teil des Wegs geschafft haben und bald den heiligen Bezirk betreten werden.«
»Heilig ist gut.«
»Damals war das so.«
»Und heute?«
»Wollen wir nicht, daß die damaligen Zeiten zurückkehren.« Das hatte ich locker dahingesagt, und es wies auch nichts darauf hin, daß es so sein könnte, aber ich war vorsichtig.
Jenseits des Säulentors führte der Weg weiter. Genau dort waren die Gräber gefunden worden. Manch von ihnen lagen offen, andere Verblichene waren in Höhlen bestattet worden, deren Öffnungen uns wie dunkle Augen anstarrten.
Man hatte diese Höhlen direkt in die Erde hineingebrochen, die wie ein mächtiger, hoher Wall vor uns lag und bräunlich-gelb schimmerte. Der Wind fuhr auch darüber hinweg, löste so manchen Staub und ließ ihn als Fahnen wegflattern.
Nichts unterbrach die Stille. Die Nekropole war menschenleer, hier wehte nur der Geist der Toten oder so etwas wie der Mantel der Frühgeschichte.
In den offenen Gräbern, die sehr geometrisch angelegt worden waren, lagen weder Knochen noch Reste. Was dort gefunden worden war, hatte seinen Platz längst in den Museen gefunden, was sich besonders auf die Grabbeigaben bezog. Niemand konnte hier etwas stehlen, solange man nicht noch weitere Gräber entdeckte.
»Ist das alles gewesen?« fragte Suko.
Ich schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Auch wenn es so aussieht, Suko, ich denke, daß wir den großen Opferplatz zu Baals Ehren noch nicht gefunden haben.«
»Wo soll er liegen?«
»Nicht offen.«
»Warum nicht?«
»Weil seine neuen Anhänger es nicht riskieren können, entdeckt zu werden, wenn sie ihm huldigen.«
»Da ist was dran, Alter.«
Es war für uns nicht weit bis zum großen, steinernen Erdwall.
Wieder waren Hinweistafeln aufgestellt worden. Zum Glück mehrsprachig. So konnten wir uns informieren.
Wir hatten tatsächlich das Zentrum der Nekropole erreicht. Hier hatten die Toten gelegen. Hier waren die Gräber geschaffen worden.
Große, kleine, mittlere. Und immer tauchte der Name des Götzen Baal auf, dem diese Kultstätte geweiht war.
»Ich kann mir nicht vorstellen, John, daß es hier nur Gräber gibt. Das ist nicht nur ein Friedhof, sondern auch eine Kultstätte. Aber darauf gibt es keinen Hinweis.« Er schüttelte den Kopf. »Verflixt noch mal, warum hat man nicht geschrieben, daß dem Götzen Menschenopfer gebracht wurden?«
»Vielleicht wollte man die Menschen nicht erschrecken.«
Er lachte mich aus. »Heutzutage? Ich bitte dich, John. Denk nur daran, wie heiß die Menschen darauf sind, Katastrophen zu erleben und Unheimliches zu sehen. Die wollen doch den Kick. Was damals hier geschah, zähle ich dazu.«
»Sie werden ihre Gründe gehabt haben.«
»Und welche?«
»Wahrscheinlich haben die modernen Menschen gespürt, daß da noch ein Rest geblieben ist. Die Zeit hat nicht alles töten oder vernichten können. Etwas hat überlebt, und dieses Etwas ist verdammt gefährlich gewesen. Möglicherweise sogar tödlich. So etwas verschweigt man lieber, als daß man darauf hinweist.«
»Ja, das kann hinkommen. Aber wo ist es, John?«
»Dort, wo wir auch die entführten Kinder finden.« Ich deutete nach vorn. »Irgendwo hier versteckt.«
»In der Wand?«
»Mehr in einer Höhle.« Wir standen ja vor den Eingängen der Höhlengräber, die in unterschiedlicher Höhe angebracht worden waren. Hineinschauen konnten wir schon, aber wir sahen nichts, denn die Dunkelheit war einfach zu tief.
Uns standen leider nur unsere kleinen Lampen zur Verfügung.
Wir leuchteten in die Eingänge hinein, die am besten erreichbar waren.
Leergeräumte Gräber. Keine alten Knochen, keine Grabbeigaben, keine Hinweise auf eine Benutzung. Die Idee hatte ich einem Zufall zu verdanken, denn ich stolperte über eine am Boden liegende Leiter. Sie hatte sich als Hindernis praktisch nicht abgemalt, weil sie fast so aussah wie der Boden.
Suko untersuchte die Grabeingänge ein paar Meter von mir entfernt, während ich die Leiter anschaute und darüber nachgrübelte, weshalb sie genau an diesem Platz lag.
War es Zufall gewesen, oder hatte man sie bewußt an dieser Stelle hinterlegt?
Ich stand dicht an der vor mir hochragenden Wand, roch den Staub und sah die Schatten der allmählich in das Gebiet hineinfließenden Dämmerung, die dabei war, die Umgebung wie ein graues Tuch zu bedecken, so daß sich scharfe Konturen allmählich auflösten.
Um an der Wand hoch zuschauen, legte
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