1054 - Die Leibwächterin
vorbeugen, um mehr sehen zu können. Das tat sie auch und ging dabei sehr vorsichtig zu Werke. Einen Fehler hatte sie trotzdem gemacht und vergessen, das Licht auszuschalten, denn so hob sie sich vor dem Lichtschein innerhalb des Fenstervierecks ab wie auf einer Bühne.
Karina änderte es nicht. Sie wollte nicht lange nach draußen schauen. Nur noch einmal feststellen, ob sie sich nicht geirrt hatte.
Woher der Schatten so plötzlich kam, wußte sie nicht. Er war da, und wahrscheinlich hatte er sich über ihr auf dem Dach verborgen gehalten.
Er war lautlos herabgesegelt oder hatte sich einfach nach unten fallen lassen.
Etwas schlug von zwei Seiten gegen ihren Kopf. Harte Treffer, denn das Zeug erinnerte sie an altes Leder. Sie wollte zurückzucken. Für einen Moment überfiel sie auch die Panik, weil sie nichts sah. Erst recht kein Ziel, auf das sie hätte schießen können.
Etwas kratzte über ihr Gesicht, erwischte den Hals. Ähnlich wie die Krallen einer Katze.
Karina schlug um sich. Mit der Hand und auch mit der Waffe traf sie auf einen Widerstand. Das aber brachte nicht viel. Erst als sich die Gestalt von ihr löste, bekam sie mit, wer sie da angegriffen hatte.
Ein Riesentier!
Kein Vogel, auch kein Rochen. Es schwebte vor ihr. Es stand in der Luft. Zu vergleichen mit einer Person, die sich im Pool aufhielt und dabei Wasser trat.
Das Wesen brauchte keine Beine, sondern setzte seine Schwingen ein, die im Verhältnis zu seinem Schädel mit den kleine, roten Augen unverhältnismäßig groß waren.
Dennoch besaß der Schädel die Größe eines Menschenkopfes, und er wuchs sogar noch an.
Karina Grischin vergaß alles. Jetzt kam ihr das Gefängnis noch dichter vor. Es war eines ohne Gitter. Es lag an ihr. Es hatte sich in ihrem Innern aufgebaut.
Vor ihr schwebte eine Fledermaus. Wenn auch absolut vergrößert, mutiert, wie sie noch nie zuvor eine gesehen hatte. Aber sie dachte auch an die Verwandtschaft zwischen Vampiren und Fledermäusen oder sogar an eine Gleichheit.
Die breiten, schwarzen Schwingen bewegten sich wie leichte Wellen, über die der Wind strich. Das interessierte die Frau nicht.
Der Kopf war wichtiger.
Keine dreieckige Form wie bei einer Fledermaus. Der Kopf hatte ein menschliches Gesicht. Es gehörte einem Mann, bei dem auch die breite Stirn auffiel.
Sie war nicht nur bleich, denn in ihrer Mitte leuchtete in einem dunklen, blutigen Rot ein Zeichen.
Es war ein D!
***
Für Karina wirkte dieser Buchstabe wie ein Magnet. Sie war zunächst nicht in der Lage, ihren Blick abzuwenden. Sie wußte, daß dieses D etwas zu bedeuten hatte, aber Costello hatte sie zu wenige eingeweiht. Plötzlich war sie unsicher geworden. Die Waffe hochreißen und schießen? Das hätte sie tun können, aber es wäre wohl kaum von Erfolg gekrönt worden. Schon einmal hatte man ihr geraten, es nicht mit einer normalen Kugel zu versuchen, und auch hier hätte sie verloren.
Deshalb ließ sie die Waffe auch wo sie war. Zusammen mit ihrer Hand berührte sie die Fensterbank. Karina ärgerte sich über den starken Herzschlag. Über ihr Nichtstun. Über ihr Nichtwissen. Die Geste, mit der sich der Mund innerhalb des Gesichts verzog, hatte etwas Belehrendes an sich, als sollte ihr eine Botschaft übermittelt werden.
Die bekam sie auch zu sehen, denn durch die verzogenen Lippen schob sich etwas anderes hervor.
Zwei spitze Zähne, wie bei dieser Tyra im Bunker. Nur für einen kurzen Augenblick blitzten sie auf, dann bewegten sich die Schwingen wieder, und das schreckliche Gebilde schoß hoch in den dunklen Himmel hinein und wurde von der Nacht verschluckt.
Karina stand wie erstarrt da. Sie wußte instinktiv, daß dieses Wesen nicht mehr zurückkehren würde, aber sie ging auch nicht weg, um Costello davon zu berichten. Irgendwie spürte sie, daß sie dieses Erlebnis einfach für sich behalten mußte. Alles andere wäre nicht gut gewesen. Ihre Bewegungen kamen der einer Träumerin gleich, als sie das Fenster schloß und auch zugleich die Gardine vorzog.
Sie drehte sich um. Der Blick war zu Boden gerichtet. Dann ging sie in die kleine Küche. Eine Flasche Wasser stand im Kühlschrank bereit. Sie trank einen langen Schluck und starrte vor sich in ins Leere, die Flasche noch immer festhaltend.
Warum war diese Fledermaus ausgerechnet hin zu ihr geflogen?
Was hatte sie mit ihrem Besuch bewirken oder andeuten wollen?
Eine Warnung möglicherweise?
Es konnte, mußte aber nicht sein. Jedenfalls blieb Karina bei dem Entschluß,
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