1061 - Die Macht der Rhein-Sirenen
Bootes zu. Das Gesicht, die hellen Augen, das Messer, es wurde an mich herangetragen wie von einer bösen Woge.
Sie starrte das Kreuz an.
Es störte sie nicht.
Aber ich griff zum letzten Mittel. Ich sprach die Formel, um das Kreuz zu aktivieren. Meine Worten peitschten ihr entgegen und auch hinein in die Bewegung, mit der sie das Messer nach unten rammte…
***
»Terra pestem teneto – salus hic maneto!«
Eine wichtige Formel. Worte, die mit einer kaum zu beschreibenden Kraft gefüllt waren. Und genau diese Kraft wurde frei. Sie setzte sich um in Licht. In ein strahlendes, wundersames, helles und zugleich beschützendes Licht. Ich hatte nur befürchtet, daß sie zu nahe an mich herangekommen war, doch ich hatte Glück.
Innerhalb dieser vor mir stehenden Lichtquelle zeichnete sie sich ab wie hineingemalt. Sie stand da. Sie hatte die Arme erhoben. Ich sah das Messer. Ich wartete darauf, daß es in meinen Körper drang, aber Hildegarda bewegte sich nicht mehr. Sie konnte es nicht. Es war ihr unmöglich. Die Kraft der Formel hatte sie gelähmt. Mitten in der Abwärtsbewegung war auch der Arm erstarrt. Sie stand vor mir, und ich sah, wie sich ihr Gesicht hervorzuschieben schien.
Nur das Gesicht. Nichts anderes mehr. Auch nicht ihre neun Schwestern. Es war wichtig, denn dieses Gesicht veränderte sich und wandelte sich um in ein anderes.
Ich kannte es.
Die Statue hatte so ausgesehen. Das Maskenhafte weichte auf. Es wurde beinahe schön und so…
Feuer!
Helles Feuer. Zuckende Flammen, die mich blendeten. Feuer, das aus dem dunklen Himmel geregnet zu sein schien. Es erfaßte ihren Kopf, es tanzte auf ihm, und wieder dachte ich an die Statue, auf deren Kopf ich die stilisierten Flammen gesehen hatte.
Hier waren sie anders. Echter. Trotzdem kein echtes Feuer, denn ich spürte keine Hitze. Es war einfach das Feuer aus dem Kreuz. So etwas wie die Flammen der Erlösung, die diese Person erfaßt hatten und nun dabei waren, sie zu vernichten.
Hildegarda verbrannte im Feuer meines Kreuzes. Die Flammen zerfraßen ihr Gesicht. Es löste sich auf.
Ich hielt die rechte Hand mit dem Kreuz vorgestreckt. Ich bekam keinen Wellenschlag mehr mit und auch nicht das Schaukeln des Bootes. Hildegarda und ich waren in einer anderen Welt gefangen, in der nur einer überleben konnte.
Dann hörte ich sie schreien. Ja, es waren Laute, die sich wie Schreie anhörten und sehr fern klangen. Noch gefangen in anderen Welten oder Dimensionen.
Hildegarda zitterte. Sie konnte sich nicht mehr halten. Durch den Körper rann ein Schauer, aber er brannte nicht. Nur das Gesicht wurde von den Flammen verzehrt und zerlief wie dickes Öl.
Urplötzlich brach das Licht zusammen.
Vor mir kippte der brennende Rest der Hildegarda in das Wasser.
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß mich die normale Wirklichkeit zurückhatte. Ich war noch zu sehr mit den Gedanken in der Vergangenheit verwachsen.
Da waren noch die neun Frauen.
Und ihre Schreie rissen mich zurück in den normalen Zustand, denn jede von ihnen trieb plötzlich im eiskalten Wasser…
***
Harry Stahl hatte zuerst gehandelt und die Rettungsringe geworfen.
Jetzt kam uns zupaß, daß wir so viele mitgenommen hatten. Auch für einen guten Schwimmer war der Rhein durch seine Stromschnellen und Strudel gefährlich.
Um es kurz zu machen. Wir bekamen sie alle an Bord. Naß, erschöpft, durcheinander.
Als letzte Person ließ sich Jane Collins in die Höhe ziehen. Ich war ihr dabei behilflich, an Bord zu klettern. Für einen Moment standen wir uns gegenüber, dann fiel sie mir in die Arme. Sie ließ mich nicht los, sie berichtete, sprach von einer verlorenen Waffe, wußte aber nicht, was wirklich mit ihr geschehen war, denn ihre Erinnerung war durch die Vernichtung der Mystikerin gelöscht worden.
»Später, Jane, später kannst du alles sagen. Jetzt laß uns ans Ufer fahren.«
Es war wichtig, daß die Geretteten ins Trockene kamen. Decken hatten wir vergessen. Aber die Ringe waren wichtiger gewesen. Und noch wichtiger war, daß alle dieses kaum erklärbare Abenteuer überlebt hatten.
Eine Mystikerin hatte versucht, auf ihre Art und Weise der großen Prophetin Hildegard von Bingen nachzueifern. Sie hatte den falschen Weg gewählt. Etwas Einmaliges konnte eben nicht wiederholt werden.
Hildegard von Bingen hatte der Menschheit viele Zeugnisse ihres Daseins und Wirkens überlassen. Sie würde niemals vergessen werden. Im Gegensatz zu Hildegarda, die der Rhein für immer und ewig
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