1063 - Die Nacht vor Walpurgis
»Wieso denn in den Spiegel, verdammt? Nein, dort hinein kommst du nicht. Da kannst du gar nicht hineingehen, denn er ist nur für würdige Menschen gedacht, nicht für dich.«
»Bist du denn würdig genug?«
White deutete ein Kopfschütteln an. »Leider nicht, was mir nicht paßt. Aber ich kann es nicht ändern. Ich bin nicht würdig. Sie haben mich nicht dafür vorgesehen. Aber sie wissen, daß ich auf ihrer Seite stehe, und das werde ich in der übernächsten Nacht beweisen. Ich bin hier die Anlaufstelle für die vielen Dienerinnen der Zora. Sie alle werden kommen, die Walpurgisnacht auf dem Hügel feiern und so Zoras Rückkehr erleben. Es wird das Fest der Feste werden, und die große Macht der Hexe wird sich endgültig ausbreiten können. Diese Nacht wird auch für mich zu einer Nacht der Freude werden, darauf kannst du dich verlassen.«
Er hatte sehr sicher gesprochen. Wie ein Automat, der etwas Bestimmtes abspulte. Für mich auch der Beweis, daß Kevin voll und ganz unter dem Einfluß der Hexen stand.
»Keine Chance mehr?«
»Nein, Sinclair!«
»Und du hast es dir gut überlegt, wie es ist, einen Wehrlosen zu erschießen?«
»Komm mir nicht damit«, erwiderte er lachend. »Du bist nicht wehrlos. Du bist ein Feind. Du bist jemand, der nicht auf meiner Seite steht. Ich lasse mir die große Chance nicht kaputtmachen.«
Die nächste Frage überraschte ihn. »Soll ich denn im Liegen hingerichtet werden?«
Das Wort hingerichtet brachte ihn leicht aus dem Konzept, denn er zuckte zusammen. Ich rechnete schon damit, daß er schießen würde, weil sich auch die Waffe bewegte, aber er hielt sich zurück und tat auch nichts, als ich alles riskierte und mich vom Rücken weg auf die Seite drehte, um mich so abstoßen zu können.
Ich bewegte mich auch etwas auf ihn zu, so daß er die Waffe anders halten mußte, wenn er auf mich zielte. Auf Händen und Füßen kroch ich über den Boden. Die Schmerzen im Kopf waren durch die Bewegungen wieder stärker geworden. Nur durfte ich darauf keine Rücksicht nehmen und »brach dann zusammen«.
Allerdings dort, wo ich es wollte und nicht weit von White entfernt.
Er kam näher. Ich schielte nach oben. Die Mündung zielte auf meinen Kopf. Mühsam fragte ich, was er tun wolle, wenn er mich endgültig aus dem Weg geräumt hatte.
»Warten, Sinclair, warten. Darauf, daß diese Nacht vorbei ist, der nächste Tag anfängt und die folgende Nacht das große Fest auf dem Hügel bringen wird.«
»Sie werden feiern, White.«
»Ja, das werden sie.«
»Es wird schrecklich werden. Es wird ausarten. Zu Orgien kommen. Zu Gewalttaten, und ich weiß, daß diese Schwestern der Hexen die Männer zumeist hassen. Du wirst dir wie ein Fremdkörper zwischen ihnen vorkommen, und sie werden auf dich keine Rücksicht nehmen, wenn sie ihre Blut- und Opferfeste feiern.«
Er glaubte mir nicht und fragte zischend: »Willst du dich herausreden? Willst du indirekt um dein Leben betteln, verdammt? Das hat keinen Sinn, Sinclair. Du kannst mich nicht mehr bekehren. Und bleib so liegen wie du bist. Das ist gut!«
Ich sah, was er wollte. Auf die Beine sollte ich nicht mehr kommen. Ich lag günstig. Er bückte sich, grinsend und hatte nichts mehr mit dem Mann gemein, den ich kennengelernt hatte. Kevin White war zu einem regelrechten Teufel geworden, der die Grenzen der Menschlichkeit längst überschritten hatte.
Er wollte sich an meiner Furcht weiden. Das sah ich ihm an. In seinen Augen erlebte ich die Gefühle, die ihn durchtobten. Das war die kalte und zynische Siegermentalität. Das Wissen, Macht über Leben und Tod eines Menschen zu haben, war für ihn das größte überhaupt, und so wirkte er auch.
Er wollte mich nahe haben, sehr nahe sehen können. Er wollte alles in sich aufsaugen. Meine Angst, die nackte Furcht, um dann den Schlußstrich ziehen zu können.
Aber er war kein Profi.
Ein Profi wußte, daß er sich anders bewegen mußte. Vor allem für eine sicheren Stand sorgen mußte.
Das war bei Kevin White nicht der Fall. Er bückte sich, und seine Füße standen dabei ziemlich nahe zusammen. Es mußte ihm daher schwerfallen, die Balance zu halten, und ich bekam auch das leichte Schwanken seines Körpers mit.
Außerdem war er äußerst nervös. Verständlich kurz vor dem ersten Mord.
Aufgegeben hatte ich mich nicht. Ich mußte etwas warten, eine Sekunde, einen Moment, wenn er sich entschlossen hatte.
White bückte sich tiefer. Die Mündung zielte jetzt auf meinen Kopf. Über sie hinweg schaute
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