1063 - Die Nacht vor Walpurgis
sollte. Sie konnte auch nicht sprechen. Was Wikka ihr da gesagt hatte, war einfach ungeheuerlich. Es war mit dem menschlichen Verstand kaum zu fassen, doch in dieser Welt existierte allein die Macht der Wikka. Da kam man mit Verstand und Logik nicht mehr weiter.
Deshalb schwieg sie. Doch sie war ein Mensch. Und ein Mensch hat Gefühle. Jane erging es nicht anders. Es blieb nicht beim Zittern, es war diese kaum zu beschreibende Masse an Angst vor der Zukunft, die in ihr hochkroch und nicht von ihr kontrolliert werden konnte.
Sie fror. Sie schwitzte. Ihre Knie waren weich. Das Herz schlug schneller, und sie sah Wikka an, daß sie sich über Janes Gefühle amüsierte. Sie und ihr Thron wirkten wie ein Fremdkörper, der einfach in dieses dunkle Reich hineingestellt worden war.
»Lange hat es gedauert, Jane. Aber du weißt selbst, daß ich nichts vergesse. Ich hole mir jede Schwester zurück, auch wenn diese denkt, daß es vorbei ist. Wir werden uns wiedersehen, Jane. Dann allerdings wird in deiner Brust bereits das neue alte Herz schlagen.« Wikka löste ihren rechten Arm von der Thronlehne und schickte Jane Collins so etwas wie einen Abschiedsgruß.
Danach verschwand sie.
Und wieder auf ihre geheimnisvolle und typische Art und Weise.
Wikka nutzte die Kraft ihrer eigenen Umgebung aus. Um sie herum verdichtete sich die Luft. Aus dem Grau wurde ein tiefes Schwarz, und im nächsten Augenblick war sie nicht mehr zu sehen.
Jane und Zora blieben zurück. Nur allmählich fand sich Jane Collins wieder zurecht. Sie drehte sehr langsam den Kopf nach rechts, um Zora anzuschauen.
Die Hexe lächelte. »Du hast unsere Königin gehört, Schwester. Richte dich danach.«
Jane mußte sich erst fassen, bevor sie reden konnte. »Ich… ich soll mein Herz abgeben?«
»Ja. Du mußt.«
»Und wo und wie?«
Zora trat einen Schritt zurück, damit sie genügend Platz bekam.
Dann hob sie mit einer lässigen Bewegung ihre Waffe an und setzte die Spitze genau auf die Stelle des Körpers, unter der Janes Herz schlug.
»Durch meine Waffe«, flüsterte Zora Jane zu. »Ich selbst werde dir das Herz aus der Brust schneiden…«
***
Ich hörte Kevin White schreien. Das allerdings nahm ich nur wie nebenbei wahr. Viel wichtiger für mich war es, ihn zu stoppen und nicht mehr zum Schuß kommen zu lassen.
Er war in seiner gebückten Haltung einige Schritte zur Seite getaumelt und auch etwas gerutscht.
Nach dem Treffer hatte ich mich in die Höhe gewuchtet, nicht auf die Schmerzen achtend, die durch meinen Kopf zogen. Wenn ich White nicht zu fassen bekam, sah es böse für mich aus. Auch in Janes Namen mußte ich gewinnen.
Kevin war damit beschäftigt, sich zu fangen und eine neue Schußposition zu suchen. Alles ging sehr schnell, zudem war ich ein Ziel, das man nicht so leicht verfehlen konnte, und deshalb setzte ich alles daran, um die Sache für mich zu entscheiden.
Ich warf mich nach vorn. Fiel ihm praktisch entgegen, und das war auch so vorgesehen, denn ich prallte gegen seine Beine. Damit hatte Kevin nicht gerechnet. Außerdem klammerte ich mich an seinen Waden fest, und dieser Griff riß ihn um.
Er war so überrascht, daß er nur einen Schrei ausstieß, aber vergaß, abzudrücken. Rücklings landete er auf dem Boden. Daß er mit dem Hinterkopf aufschlug, war sein Pech und mein Glück. Ich bekam eine kurze Galgenfrist und sah die Beine in greifbarer Nähe.
Mit beiden Händen faßte ich zu. Drehte sie herum und legte dabei soviel Kraft in die Griffe, daß der Körper die Bewegung mitmachte. Er rollte auf den Bauch.
Ich warf mich auf ihn. Mit meinem Gewicht drückte ich Kevin zu Boden. Ich streckte den rechten Arm aus, um ihm die Waffe zu entreißen, die er noch nicht losgelassen hatte.
Meine Finger umklammerten sein Handgelenk. Ich bog es nach oben und drehte es zugleich.
Die Schmerzen mußten wie Feuer durch Kevins Arm schießen, denn er schrie wahnsinnig auf. Ich hörte ihn noch heulen, als ich die Beretta packte und mich von seinem Rücken wegrollte. Im Moment hatte White nichts anderes im Sinn, als sich um sich selbst zu kümmern. Sein Zustand war nicht eben optimal, denn ich hatte sehr hart zugegriffen.
Wenig später war es umgekehrt. Da stand ich auf den Beinen, und er lag am Boden. White hatte sich zur Seite gedreht. Er sprach mit sich selbst und meinte seine rechte Hand, die er in die Höhe hielt und mit der linken umklammerte.
»Hören Sie auf zu jammern!« fuhr ich ihn an. »Sie haben mich erschießen wollen.«
»Aber
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