1073 - Liebling der Toten
dabeihaben wollen, denn er kam erstens mit der Zeichnung nicht zurecht und zweitens nicht mit dem anonymen Brief, den der Zeichner hinzugelegt hatte.
Er hatte sich praktisch als ein Mensch geoutet, der eine höchst sensible und überdurchschnittliche Begabung besaß. Er war in der Lage, so hatte er sich mitgeteilt, die Gedanken der Toten zu lesen und zeichnerisch umzusetzen, die sie in den letzten Sekunden ihres Lebens so stark beschäftigt hatten.
Das tote Mädchen hatte seinen Mörder gesehen und als Tote gedanklich eine gewisse Person beschreiben können, an die wir gern herankommen wollten. Nun gingen wir davon aus, daß diese Aktion durchaus ein erster Schritt in diese Richtung war.
Wenn der Killer tatsächlich auftauchen sollte und wenn sein Aussehen mit der Beschreibung oder der Zeichnung übereinstimmte, dann war das so etwas wie eine kleine Sensation, obwohl wir auch argwöhnten, daß man uns geleimt hatte.
Das würde sich hoffentlich bald herausstellen. Eine genaue Zeit, wann der Kunde kam, hatte uns der Tankwart nicht mitteilen können. Es war immer Nachmittag.
Auch jetzt hielt sich der Kunden verkehr in Grenzen. Hin und wieder füllte jemand Sprit nach, kaufte einige Kleinigkeiten und fuhr wieder ab.
»Warum bist du gekommen?« fragte Suko.
»Ich wollte euch nur erklären, daß wir noch etwas Geduld haben müssen.«
»Darauf haben wir uns schon eingestellt.«
»Zudem bin ich sicher, daß mehr hinter dieser Sache steckt. Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe mit meiner Frau gesprochen, und sie meinte, daß es besser wäre, wenn ich euch mitnehme.«
»Eine weise Entscheidung«, erwiderte ich grinsend.
»Sie scheint Angst um mich zu haben.«
»Klar, du wirst älter.«
»Was soll das denn heißen?«
»Du bist doch besser an deinem Schreibtisch aufgehoben. Da hast du alles, was du willst. Dein Telefon, deinen Kaffee, kannst deine schrecklichen Zigarren rauchen, die bei dir zu Hause nur die Gardinen angilben, und bist ansonsten…«
»Immer zufrieden, solange nicht irgendwelche Störenfriede wie ihr erscheinen.«
»Das war auch nicht nett.«
Tanner räusperte sich. »Also. Ich werde wieder verschwinden. Irgendwie bin ich kribbelig. Ich denke, daß er kommen wird.« Er hatte bereits die Tür geöffnet, als er sagte: »Achtet auf einen dunklen Lancia. Das ist er.«
»Dann könnte Miller auch ein italienischer Mafiakiller sein«, bemerkte Suko.
»Ja, denn ein romanischer Typ ist er, wie mir der Besitzer hier beschrieben hat.«
»Na denn, achte auf deinen Hintern, Tanner.«
»Danke, John, du auch.«
Er ging wieder weg. Seine Gestalt schien vom Regen aufgesaugt zu werden.
»Freund Tanner ist nervös«, sagte Suko.
»Kein Wunder. Was ihm da widerfahren ist, kommt auch nicht alle Tage vor, oder ist es dir schon passiert, daß man dir die Zeichnung von einem Mörder schickt und dir dabei erklärt, daß die Beschreibung von einer toten Person stammt?«
»Und du glaubst daran?«
Ich winkte mit beiden Händen ab. »Hör auf, Suko, was ich glaube oder nicht, spielt keine Rolle. Tatsache ist, daß wir immer Dinge erleben, die einfach unglaublich sind. Und dabei wird es bleiben, wobei die Variationen des Unmöglichen verdammt vielfältig sind.«
»Richtig.«
Wieder rauschte ein Fahrzeug heran. Von unserem Standort aus hatten wir einen relativ guten Blick auf die Zapfsäulen. Das Fahrzeug war kein Lancia. Aus dem Jaguar stieg ein älterer Mann, der sich an der Zapfsäule zu schaffen machte.
Ich wünschte mir, daß der Killer nicht gerade jetzt auftauchte, weil sich wieder eine unbeteiligte Person in der Nähe befand, und hatte Glück, denn der Mann fuhr völlig normal wieder los, nachdem er die Rechnung beglichen hatte.
Das Warten ging weiter. Ich hatte die Rückenlehne weiter nach hinten gestellt und wollte es mir bequem machen. Dazu kam ich nicht, denn ich hörte Sukos Zischen, das so etwas wie eine Warnung war.
Sofort war ich alarmiert.
»Das ist ein Lancia.«
Ich schaute hin. In der Tat rollte soeben ein grauer oder dunkelgrüner Lancia nahe der Zapfsäulen aus. Der Motor wurde abgestellt, die Tür aufgestoßen und dann stieg dieser mutmaßliche Miller aus.
Unserer Ansicht nach bewegte er sich nicht normal. Er kümmerte sich zunächst nicht um das Tanken, sondern blieb für eine Weile neben seinem Fahrzeug stehen und schaute sich um.
Wir hatten uns etwas tiefer in das Fahrzeug zurückgezogen, denn er sollte uns auf keinen Fall durch einen dummen Zufall sehen können, auch wenn der
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