108 - Der schwarze Würger
nicht."
Ich hätte zustimmen sollen, denn ich konnte immer noch nicht lieben.
Das war mein Fluch. Und deshalb wollte ich diesem Leben auch ein Ende bereiten. Es war eine einzige Qual gewesen.
„Gut", sagte ich, „du sollst erfahren, warum ich noch lebe. Als ich mit meinen Gefährten die Berge überquerte, erschien uns die Yuki-Onna. Meine Freunde kamen in ihrem kalten Hauch um, mich aber ließ sie frei. Jedoch mußte ich ihr geloben, zu niemandem über diese Begegnung zu sprechen. Jetzt kennst du mein Geheimnis."
Sie sprang auf. Ich sah ihr wutverzerrtes Gesicht hoch über mir.
„Ich habe dein Geheimnis längst gekannt!" schrie sie. „Denn ich war es, die dir das Leben schenkte. Und ich sagte dir, daß ich dich töten würde, wenn du je darüber sprechen würdest."
„Aber, wenn du die Schneefrau bist, dann bleibt das Geheimnis doch gewahrt", erwiderte ich.
„Ha, ich bin dir als Tomoe erschienen - und zu ihr hast du gesprochen", gellte ihre Stimme durch den Wald. „Also hast du Verrat begangen und sollst die versprochene Strafe erhalten."
Ihre Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich gänzlich verstummt war. Der Kijin in meinem Gesicht begann in Todesangst zu rasen. Mir schwindelte.
Es wurde auf einmal kalt. Während ringsum die Natur in vollster Blüte stand, brach für mich die Winterkälte herein. Etwas knackte. Ich starrte auf meinen Ärmel. Der Kopf des Rokuro-Kubi, der sich in meinem Ärmel verbissen hatte und sich seitdem nicht mehr regte, bewegte sich auf einmal.
Er riß das Maul auf und schnappte nach mir.
Ein rasender Schmerz ging durch meinen Körper. Wieder schnappte sein furchtbares Gebiß zu - und immer wieder.
Ich ergab mich in mein Schicksal. Sollte mich der Rokuro-Kubi verschlingen. Ich hatte den Tod gewollt.
Ich hatte längst schon geahnt, daß Tomoe gar nicht Tomoe war. Aber die Wahrheit erkannte ich erst, als sie mich aus der Hecke befreite und sich mehr an meinem Geheimnis interessiert zeigte als am Schicksal unseres Kindes. Die wahre Tomoe hätte sich ganz anders verhalten. Aber sie lebte längst nicht mehr. Sie hatte den Tod gefunden, als ich den dreiäugigen Mönch köpfte.
Und nun erfüllte sich mein Schicksal. Die furchtbaren Geräusche, die der Rokuro-Kubi mit seinen mahlenden Kiefern erzeugte, verklangen. Finsternis senkte sich über meinen Geist.
Tomotada war nicht mehr. Mein Geist aber lebte weiter, wanderte durch die unbegreiflichen Ewigkeiten, bis er einen neuen Körper fand. Den Körper eines Neugeborenen, das irgendwo in der Welt gerade zum Leben erwachte.
Ich wußte nicht, in welchem Land und auf welchem Erdteil meine neue Heimat lag. Ich wußte nur, daß ich die Mächte des Bösen überlistet hatte und Geborgenheit in einem neuen Körper fand.
Bald würde die Erinnerung an die Leiden meines fünften Lebens verblassen - bis sie für etliche Jahre ganz erlosch und erst wieder in Jahr und Tag zurückkehrte.
Was würde mir das sechste Leben bringen? Wer würde ich sein? Ich hoffte nur eines: daß ich nicht wieder zum Sklaven der Mächte der Finsternis wurde.
Gegenwart.
Hier setzte Dorians Erinnerung an die Vergangenheit aus. Sein Geist kehrte in die Gegenwart zurück.
Einiges aus seinem Leben als Tomotada war ihm noch nicht ganz klar, aber er würde wohl auch nie sämtliche Einzelheiten erfahren. So wußte er zum Beispiel nicht, wohin die Yuki-Onna, in der Gestalt Tomoes, das Tomokirimaru gebracht, das ihr Dorian als Tomotada übergeben hatte. Er würde nie erfahren, auf welchen Wegen es in das Samurai-Museum von Tokio gekommen war, wo es mehr als 350 Jahre später Tomotada II. an sich gebracht hatte. Aber dafür wußte er nun, wer der Schwarze Samurai in der Gegenwart war. Es handelte sich um niemand anderen, als um seinen eigenen Sohn, den er damals mit Tomoe gezeugt hatte. Olivaro hatte ihn mit sich genommen und in seinem Sinne erzogen.
Dorian war auch klar, warum Tomotada II. keine Ruhe finden konnte. Solange sich sein Hozo-no-o in fremdem Besitz befand, würde er als magisch belebte Mumie sein Unwesen treiben müssen. Und solange er nicht sterben konnte, war der Samurai mit der Maske ein willenloses Werkzeug Olivaros. Dorian erwachte vollends und griff haltsuchend um sich. Seine Umgebung schwankte, als würde er sich auf einem sturmgepeitschten Boot befinden.
„Wir müssen Vagos Tempel vor den Besessenen erreichen", ertönte gerade Olivaros Stimme. „Aber selbst dann ist es fraglich, ob wir Vago besiegen können. Unga, glauben Sie, daß wir
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