1088 - Killer in der Nacht
Das schaffte sie nicht. Irgendwelche Kräfte hielten sie fest. Sie wurde nicht von ihrem Bewußtsein, sondern allein vom Unterbewußtsein gesteuert. Es stand im reinen Gegensatz zu ihrem Wollen.
Und so blieb Estelle Crighton sitzen. Verkrampft, jetzt auch zitternd und noch immer nach dem unheimlichen Atmer Ausschau haltend. Aber der war nicht da - oder doch?
Sie hörte ihn wieder.
Das Keuchen blieb sehr nahe bei ihr. Zuerst nahm sie es an ihrer rechten Seite war. Dann entstand es genau vor ihr, ohne daß Estelle etwas erkannte. Das Keuchen wanderte. Es veränderte sich dabei, blieb aber im Prinzip das gleiche Geräusch. Sehr genau konnte sie die Laute verfolgen und stellte fest, daß sie um sie herum einen Kreis bildeten. Der unsichtbare Keucher ging um sie herum. Hielt sie unter Kontrolle. Er war mal näher bei ihr, dann wieder weniger nah. Aber er tat ihr nicht den Gefallen, zu verschwinden.
Auf seinem Weg mußte er auch den Lichtschein der Lampe durchqueren. Wäre er nur ein wenig sichtbar gewesen, hätte sie ihn sehen müssen, wenn er durch die hellste Stelle huschte.
Auch dort war nichts.
Sie konnte ihn nicht sehen, nur hören, und das bildete sie sich auf keinen Fall ein.
Erneut vernahm sie schweres Atmen. Nur stammte es nicht von dem Unsichtbaren. Sie selbst hatte es ausgestoßen. Estelle war es unmöglich, sich unter Kontrolle zu halten. Sie war auch nur ein Mensch und keine Maschine.
Du mußt dich zusammenreißen! schärfte sie sich ein. Du darfst nicht die Nerven verlieren. In dieser Wohnung lauert das Grauen, wie auch immer. Sie lachte plötzlich und schüttelte dabei den Kopf.
Das Geräusch glich mehr einem Schluchzen, auch deshalb, weil ihr der Gedanke kam, daß sie es war, die alles Unnatürliche anzog. Vor einigen Tagen war es der schreckliche Vampir gewesen und jetzt ein Wesen, das sie nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte.
Das Atmen war nicht mehr zu hören. Trotzdem bezweifelte Estelle, daß die Gefahr das Zimmer verlassen hatte. Und wenn, dann würde sie auch wieder zurückkehren.
Estelle zwang sich dazu, auf ihre Uhr zu blicken. Sie wollte herausfinden, wie lange man sie in Ruhe ließ und wunderte sich darüber, wie lang eine Minute werden konnte.
Flucht? Weg aus der Wohnung? Sie spielte wieder mit dem Gedanken, obwohl sie sich auch sagte, daß es nicht viel Sinn hatte, wenn sie es versuchte.
Im Flur dieses Hauses war der schreckliche Mord geschehen. Da hatte es auch nichts gebracht, daß jemand versucht hatte, vor dem Grauen zu fliehen.
Offiziell war ihr der Mörder nicht bekannt. Es gab keine Beweise, wer diesen Caspar Wayne umgebracht hatte. Sie jedoch war davon überzeugt, daß es nur der unsichtbare Atmer gewesen sein konnte. Ein heimtückischer, hinterlistiger Töter.
Allmählich fühlte sie sich umzingelt von Kräften, gegen die sie nichts ausrichten konnte. Wo sollte sie zudem um Hilfe bitten? Bei den Nachbarn vielleicht?
Nein, die hätten sie ausgelacht. Die wollten ihre Ruhe haben. Es war in diesem Haus schon eine schreckliche Tat passiert. Wenn sie den Leuten jetzt noch damit ankam, daß es ein unsichtbarer Mörder gewesen sein konnte, der auch sie bedrohte, dann hätte man sie nur ausgelacht.
Nein, sie mußte allein da durch, und genau das wollte sie auch. Es war ihr jetzt egal, wie spät es schon war. Es gab jemand, der ihr helfen konnte.
Der Name stand wie festgeschrieben vor ihrem geistigen Auge: John Sinclair.
Die Telefonnummer kannte sie nicht auswendig, aber sie trug eine Karte bei sich und holte sie mit spitzen Fingern aus der Tasche der Hose hervor.
Noch einmal blickte sie in die Runde, bevor sie anfing, die Zahlen einzutippen.
Der Ruf kam durch. Es war nicht besetzt, und schon spürte sie den Hoffnungsfunken in sich.
Der erlosch sehr schnell, denn John Sinclair hob nicht ab. Keine Rückmeldung, nichts.
»John«, flüsterte sie vor sich hin, »John, wo steckst du?« Ihre Stimme zitterte und kam ihr selbst fremd vor. Hinter ihrer Stirn breitete sich ein Drück aus, der bald den gesamten Kopf erfaßt hatte und wie ein Ring wirkte.
Sie atmete heftiger. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Himmel, warum lag John Sinclair nicht in seinem Bett? Er hatte ihr gesagt, daß er nach Hause fahren wollte. Aber John hatte gewirkt wie jemand, der dabei unter einem schlechten Gewissen litt. Es konnte ja sein, daß er noch irgendwo eine Rast eingelegt hatte oder bei den Conollys steckte.
Sie war so durcheinander, daß ihr erst jetzt einfiel, wer die Wohnung neben
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