109 - Der Werwolf und die weiße Frau
einen Weg, und ich entdeckte einen Wegweiser.
Zwei Kilometer nach Winden, stand darauf.
„Winden?" sagte ich überrascht. „Aus diesem Ort stammt doch Burian Wagner."
„Stimmt", sagte Abi Flindt. „Er hat mir mal von diesem Ort erzählt. Soll ziemlich klein sein. Er hat hier als Wunderdoktor praktiziert. Dämonen sollen ihn vertrieben haben."
„Dann werden wir uns mal den Ort ansehen", sagte ich.
In der Zwischenzeit war die Sonne aufgegangen. Es versprach ein schöner Septembertag zu werden.
Coco wunderte sich, daß das Licht noch funktionierte. Sie stand vor der versiegelten Tür, die ins unterirdische Gewölbe führte, und ließ sie nicht aus den Augen.
Ein seltsam hohl klingendes Sausen erfüllte die Luft. Unsichtbare Kräfte wurden gegen die Tür geschleudert, doch die magischen Abwehrbanner hielten stand.
„Phillip hat sich jetzt beruhigt", sagte Virgil Fenton, der neben Coco stehengeblieben war.
„Und wie geht es den anderen?" fragte Coco.
„Burian hat sich Maria Calvos und Jacqueline Bonnets angenommen. Die beiden schlafen jetzt. Das hätte ich Burian gar nicht zugetraut."
„Er war doch einmal Naturheilpraktiker", sagte Coco geistesabwesend.
Wieder erschütterte ein Schlag die schwere Tür.
„Tirso wollte zu dir kommen, Coco, doch ich hielt ihn zurück. Der Junge kommt mir sehr verändert vor. Er murmelte die ganze Zeit, daß er die Dämonen vernichten wollte."
„Das kann ich mir denken", meinte Coco und blickte Virgil flüchtig an.
Sie zog eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. An der Tür wurde gerüttelt, und eine Woge abscheulicher Gedankenfloß auf Coco zu, die zwei Schritte zurücktaumelte. Für sie als ehemaliges Mitglied der Schwarzen Familie war die starke dämonische Ausstrahlung besonders deutlich zu spüren.
„Tirso will uns nur helfen. Bis jetzt haben wir ihm immer verboten, seine Kräfte anzuwenden, und er fügte sich auch. Wir dürfen nicht vergessen, daß er noch unfertig ist. Er spürt, daß wir in großer Gefahr schweben, und weiß, daß er uns helfen kann. Das stürzt ihn in Gewissenskonflikte. Virgil, geh zu ihm zurück und versuche ihn zu beruhigen! Er soll schlafen."
Virgil schüttelte den Kopf. „Tirso ist hellwach. Er will nicht schlafen. Wie lange, schätzt du, werden uns die Dämonen belagern?"
„Das ist schwer zu sagen", meinte Coco nachdenklich. „Ich denke, daß ihr Angriff im Morgengrauen schwächer werden wird. Sie werden sich zurückziehen, doch die Burg nicht aus den Augen lassen."
„Dann könnten wir ja einen Ausbruch wagen."
Coco schüttelte den Kopf. „Hier im unterirdischen Gewölbe sind wir sicherer als im Freien."
Schritte waren zu hören. Virgil und Coco wandten den Kopf um. Der blauhäutige Zyklopenjunge kam langsam näher. Sein Gesicht war verzerrt, und sein Auge schien zu pulsieren.
„Ich habe dir verboten, daß du…", sagte Virgil, doch unter dem Blick des Jungen brach er ab. So hatte er Tirso noch nie zuvor gesehen.
Der Junge blieb vor der Tür stehen, und sein Auge schloß sich halb. Unwillkürlich trat Coco einen Schritt zur Seite.
Phillip und Tirso verfügten über Fähigkeiten, die man nicht einmal erahnen konnte.
„Was hast du vor?" fragte Coco und legte einen Arm um Tirsos Schultern.
Doch der Zyklopenjunge schüttelte ihren Arm ab und trat noch einen Schritt an die Tür heran. Ein leichtes Zittern durchlief seinen Körper, und für einen Augenblick schien es Coco, als würde ein blendend-weißer Lichtstrahl von seinem Auge auf die Tür zurasen.
Ein lauter Knall war zu hören, dann ein entsetzlicher Schrei, dem ein Dutzend anderer folgten.
Coco preßte beide Hände vors Gesicht. Deutlich spürte sie die Gedanken einiger Dämonen, die in diesem Augenblick ihr teuflisches Leben aushauchten. Tirso war es auf unerklärliche Weise gelungen, sie mittels seines unheimlichen Blickes zu töten.
Die Tür bebte nicht mehr. Die dämonische Ausstrahlung war schwächer geworden.
„Nicht, Tirso!" sagte Coco. „Geh mit Virgil zurück! Du darfst nicht…"
„Ich spüre ihre Gedanken", sagte der Zyklopenjunge. „Sie wollen uns alle töten. Aber das werden Phillip und ich verhindern. Wir sind stärker als sie."
„Trotzdem, Tirso. Geh mit Virgil zu den anderen!"
Tirso zögerte. Als er Cocos bittenden Blick sah, fügte er sich.
Coco setzte sich nieder. Sie war müde. Langsam rauchte sie eine Zigarette, warf den Stummel zu Boden und drückte ihn aus. Sie dachte an Dorian, der sich wahrscheinlich bereits im
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