109 - Die Atemdiebin
Wahrheit.
Weiter die Eingeschüchterte spielend, verließ Amelie das stählerne Gefährt, das sich EWAT nannte. Draußen besserte sich ihr Zustand, auch wenn die Knie zitterig blieben. Mehr taumelnd als gehend floh sie Richtung Liion. Sie durfte keine Zeit verlieren, musste fort sein, bevor die Technos jemanden schickten, der nach Golluks Leichnam sah.
Kurz nach ihr traten Alaan und Blaance ins Freie.
Während Blaance den übrigen Händlern einen Besuch abstattete, nahm Alaan die Handkarre auf und folgte ihr.
Amelie hielt bis zu den ausgebrannten Waggons der Straßenbahn durch. Dort angelangt, befiel sie ein intensives Schwindelgefühl. Im Schatten des verkohlten Triebwagens setzte sie sich in das frische, noch ein wenig feuchte Gras.
Hunger quälte ihre Magenwände. Wie konnte das sein? Sie hatte sich doch erst vorige Nacht vollgesogen!
Amelie blickte auf ihre Hände und atmete erleichtert auf.
Kein Grund zur Besorgnis. Die Haut saß noch immer straff.
Ihre Gedanken zu ordnen fiel dagegen schwer. Konnte es wirklich sein, dass der Anzug, der sie ernährte, von den gleichen Technos stammte, die ihr so große Schmerzen zugefügt hatten? War sie, angesichts der Erkennungsmarke, gar eine der ihren? Nein, unmöglich, dann könnte sie doch nicht ohne Helm an der Oberfläche überleben.
Hatte man sie also gefangen und in einem schmerzhaften Prozess zu dem gemacht, was sie heute war? Wenn sie sich doch nur erinnern könnte! Doch so oft sie den Schleier der Vergangenheit auch zu durchdringen suchte, stets sah sie nur sich selbst auf dem Operationstisch liegen, an ledernen Fesseln zerren und vor Schmerzen kreischen.
Säure pumpt durch die Adern und verätzt jede einzelne Zelle in ihrem Innersten.
Das Knarren einer ungeschmierten Radnarbe zerriss das Gespinst der leidvollen Erinnerungen. Überrascht registrierte sie, wie Alaan den Handkarren vorüber schob, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Warte!«, rief Amelie und sprang auf, geplagt von der Furcht, dass die Nachtmahre zurückkehren mochten, sobald sie wieder alleine war. »Ich begleite dich ein Stück.«
Alaans Begeisterung hielt sich, milde ausgedrückt, in Grenzen. Als Amelie neben ihn trat, wich er so hastig zur Seite, dass der Karren umfiel.
»Hau bloß ab«, fuhr er sie Frau an. »Lass mich in Ruh!«
Amelie strich über die zahllosen schweißnassen Strähnen, die ihr im Gesicht klebten. Meine Güte, war sie plötzlich so unansehnlich geworden?
»Was ist denn los?«, fragte sie, um einen neckischen Unterton bemüht. »Gestern wolltest du mich unbedingt zum Essen einladen, und nun darf ich nicht mal neben dir stehen?«
Der Lischettenfänger maß sie mit einem abschätzigen Blick.
Einen Moment lang wog er seine Worte ab, dann brach es grob aus ihm hervor: »Ich habe gesehen, wie du Golluk gefolgt bist und dich bei ihm eingehängt hast.«
Amelie hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Verdammt, der Hunger hatte sie unvorsichtig gemacht.
»Ich habe dem Holzkopf nur ein paar Münzen aus der Tasche gezogen«, log sie mehr schlecht als recht. »Ich finde, das geschah ihm ganz Recht, so ekelig, wie er sich gegenüber der Schankmagd benommen hat. Als er den Atemdieb traf, war ich schon längst fort.«
»Lüge!«, fuhr Alaan sie an. »Ich habe euch beide gehört, als ich meine Fallen abgegangen bin. Und ich habe gesehen, was du mit Golluk gemacht hast. Wie du ihn…« Angeekelt brach er ab.
Amelie fühlte das Blut aus ihrem Gesicht weichen. Sie wollte etwas sagen, brachte jedoch kein Wort hervor.
Wenn Alaan jetzt sein Messer gezogen und auf sie eingestochen hätte, wäre sie nicht einmal in der Lage gewesen, eine Hand zur Abwehr zu heben. Zum Glück tat er nichts dergleichen, sondern richtete den Karren auf und schob ihn davon.
»Warum?«, brachte Amelie endlich hervor, die Stimme rau wie ein Reibeisen. »Warum hast du niemandem davon erzählt?«
»Weil Golluk eine blöde Wisaau war«, antwortete er, das Gesicht stur nach vorne gerichtet; blieb dann aber doch stehen und sah über die Schulter zurück. »Und weil ich dir bis aufs Dach gefolgt bin.«
Schützend presste Amelie beide Hände gegen die Brüste.
Trotz ihrer Kleidung fühlte sie sich plötzlich nackt.
»Ja«, fuhr er fort. »Ich habe dich schreien und schluchzen gehört. Du magst die Atemdiebin sein… doch ein Monster, nein, das bist du nicht. Trotzdem rate ich dir, aus der Gegend zu verschwinden.«
Ein Funken Mitleid schlich sich in das Grün seiner Iris, und das war beinahe noch
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