1091 - Das Geschöpf
keinen Schatten, sondern ein Monster.
Ein Geschöpf, ein Tier und trotzdem irgendwie menschlich. Langgestreckt hatte es seinen Körper und hatte sich mit seinen Zähnen in der Kehle des Heimleiters verbissen. Der Mann konnte nichts tun. Es war auch nicht zu sehen, ob er bereits verstorben war.
Gloria Esteban sah ähnlich aus wie Hancock. Nur hatte ihr das Monstrum nichts getan. Sie hockte wie erstarrt im Sessel und wurde von einer Klaue gegen die Rückenlehne gedrückt.
Ich konnte einen Schrei der Wut einfach nicht unterdrücken, als ich die schreckliche Szene sah. Es war der Schrei zuviel, der auch das Geschöpf warnte.
Seine Zähne lösten sich vom Hals des Menschen. Er zuckte herum, er war plötzlich sehr schnell und jagte dann mit gewaltigen Sprüngen auf die Wand zu.
Ich kam nicht zu einer Reaktion. Das Geschöpf stieß sich ab - und sprang in die Wand hinein.
Inmitten des Sprungs hatte es sich in einen Schatten verwandelt, und die Zimmerwand war auch kein Hindernis. Sie weichte auf, kaum daß sie berührt worden war.
Vor meinen Augen hatte sich der Körper in dieses zuckende Etwas verwandelt, das über die Wände huschte, plötzlich an der Decke erschien und dann ganz verschwunden war.
Auch mit meinem Kreuz hatte ich nichts ausrichten können. Ich stand noch immer da und wurde erst durch das Wimmern der Frau aus der Überraschung gerissen.
Selten zuvor war ich von einer Szene so überrascht worden. Man riß einfach die Dinge vor meinem geistigen Auge weg. Entfernte die Bretter, reinigte das Gehirn, so daß ich in der Lage war, mich wieder um die Wirklichkeit zu kümmern.
Ich ging auf Hancock und die Frau zu. Den Heimleiter hatte es schlimm erwischt. Er war nicht tot, wie ich befürchtet hatte, denn es war ihm im allerletzten Augenblick gelungen, einen Arm in die Höhe zu reißen und ihn als Deckung dicht vor seine Kehle zu legen. So war der Arm stärker in Mitleidenschaft gezogen worden als der Hals. Die scharfen Zähne hatten den Stoff des Pullovers aufgerissen, auch blutende Wunden in der Haut hinterlassen und den Hals ebenfalls erwischt, zum Glück jedoch nicht lebensgefährlich.
Hancock war nicht in der Lage, zu sprechen. Er stand unter Schock. Erst als ich ihn anfaßte, kam er wieder zu sich. Er sah den blutenden Arm, er mußte auch die Schmerzen an seiner Kehle spüren, tastete dorthin, spürte auch das Blut und verlor noch mehr Farbe aus dem Gesicht.
Ich rechnete damit, daß er kurz vor einem Zusammenbruch stand. In der Tat mußte ich ihn festhalten und führte ihn dann zu einer anderen Sitzgelegenheit. Er blutete. Das Blut hatte auch Spuren hinterlassen. Er mußte verbunden werden.
Ich fand einige Handtücher an der kleinen Spüle. Die wickelte ich um den Arm des Mannes und drückte ihm ein dünneres Tuch in die Hand, das er gegen die Kehle pressen konnte.
Der Köchin war nichts passiert. Abgesehen von einem furchtbaren Erlebnis hatte sie keinen Kratzer abbekommen. Als ich auf sie zu ging, starrte sie mich offenen Mundes an. Dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie mich abwehren.
»Okay, Gloria, es ist vorbei. Sie sollten versuchen, sich zu erinnern, was passierte.«
»Ja, erinnern. Er war plötzlich da. Der Schatten. Auf einmal. An der Decke und an den Wänden. Er war so verdammt schnell und raste hin und her. Ich wußte von meinem Sohn, wie gefährlich er sein kann. Auch er hatte Angst. Aber das war hier zuviel. Er ist kein Schatten mehr gewesen, das war eine Bestie. Verwandelt…«
Mehr konnte sie mir nicht sagen. Es lag auf der Hand, daß sie keine Erklärungen wußte. Die mußte ich mir bei ihrem Sohn Manuel holen. Ich hatte ihn ja so weit bringen können, daß er zumindest einige Worte gesagt hatte.
Phil Hancock atmete schwer. In sein Gesicht war auch wieder etwas Farbe zurückgekehrt. Er hockte noch immer im Sessel, starrte auf seine Hand und auf das blutgetränkte Tuch. Seine Kehle sah zerkratzt aus. Die Streifen malten sich dort ab, als wären sie auf die Haut gepinselt worden. Sie bluteten jetzt ebenfalls leicht.
»Es ist besser, Mr. Hancock, wenn Sie einen Arzt rufen!« riet ich ihm. »Ihre Verletzungen sehen nicht gut aus. Der Doktor könnte die Wunden desinfizieren und richtig verbinden.«
Er achtete nicht auf meine Worte. »Wer hat da gebissen? Wer ist das Gewesen?«
»Ein Tier.«
»Kein Schatten?«
»Leider nicht«, sagte ich. »Der Schatten besitzt die Eigenschaft, sich verwandeln zu können. Aber das ist unwichtig. Sie sollten einen Arzt rufen. Kennen Sie
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