1092 - Der Vampirengel
Grund?«
»Sie haben sich im Prinzip keines Vergehens schuldig gemacht. Sie gingen uns wegen ihrer Texte und bei der Beobachtung der Szene ins Netz. Sie sangen von Vampiren, von Blut und so weiter. Auch wollten sie eine völlig andere Welt schaffen, in der die Sünde zur Normalität wird. Bei ihren Konzerten kam es zu Krawallen, denn einige Fans nahmen die Worte zu genau. Das ist es gewesen.«
»Haben Sie Namen?«
»Nein, so genau wurde die Gruppe nicht observiert.«
»Aber es sind deutsche Sänger?«
»Ja, wir haben nichts anderes gespeichert.«
»Dann bedanke ich mich bei Ihnen.«
Der Kollege wurde etwas menschlicher. »Ich hoffe, daß wir Ihnen weiterhelfen konnten.«
»Ja, das haben Sie.«
Harry war froh, das Gespräch beenden zu können. Er legte den Hörer auf und schaffte es soeben noch bis zu seinem Bett. Er zog auch die Schuhe aus. Zu mehr war er nicht mehr fähig.
Wie von selbst sank er nach hinten. Nicht einmal eine halbe Minute später war er in tiefen Schlaf gefallen, der ihm mehr als guttat…
***
Vier Uhr am Morgen!
Selbst die letzten Gäste hatten die Bar verlassen und waren in ihren Zimmern verschwunden. Manche in Begleitung, andere allein, jedenfalls lag der Bau eingebettet in eine Stille, die kaum mehr als zwei Stunden anhalten würde.
Die Gänge waren leer. Das schwache Licht der Notbeleuchtung warf seinen Schein auf den Teppich, der die Schritte der einsamen Gestalt dämpfte.
Es war eine Frau, die sich durch den Flur in der dritten Etage bewegte. Sie trug das rote Haar jetzt offen. Die Kleidung hatte sie nicht gewechselt. Daran klebte noch immer der Schmutz des Friedhofs. Von ihrer totenähnlichen Starre war nichts mehr zu bemerken. Sie bewegte sich geschmeidig durch den leeren Gang und hielt bereits die Chipkarte für die Zimmertür in der Hand.
Dagmar Hansen führte sie vorsichtig in den Schlitz, wartete auf das grüne Licht und drehte den Knopf.
Sehr behutsam drückte sie die Tür nach innen. Sie wußte sofort, daß sich jemand im Zimmer aufhielt, denn sie hörte die Atemzüge des Menschen. Leise schloß Dagmar die Tür hinter sich und näherte sich auf Zehenspitzen dem Bett.
Daneben blieb sie stehen. Ein verloren wirkendes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie Harrys Gesicht betrachtete. Ihr Freund schlief tief und fest. Sie machte auch kein Licht, und trotzdem sah sie die Blessuren im seinem Gesicht.
Mit sanften Bewegungen strich sie über die Wangen ihres Freunds hinweg. Sie lächelte ihn an, ohne daß er ihr Lächeln erwiderte. Er schlief so tief, daß es schon unnatürlich wirkte. Sie konnte sich vorstellen, welche Sorgen er sich um sie gemacht hatte, aber sie konnte ihm nicht helfen, nicht zu diesem Zeitpunkt.
So gut wie unhörbar bewegte sich Dagmar weiter. Sie ging dorthin, wo ihre Reisetasche stand, schaute kurz hinein, schlich dann ins Bad und holte das ab, was sie brauchte. Sie verstaute die persönlichen Dinge in der Tasche, zog den Reißverschluß behutsam zu und lauschte den Atemzügen ihres Freundes.
Sie waren weiterhin ruhig. Harry würde so schnell nicht erwachen. Es wäre jetzt Zeit für sie gewesen, zu verschwinden, aber sie konnte es nicht so ohne weiteres.
Auf dem Nachttisch stand nicht nur das Telefon. Es lag auch ein kleiner Notizblock bereit und daneben ein Kugelschreiber. Auf das obere Blatt kritzelte sie eine schnelle Nachricht für ihren Freund und Kollegen. Er sollte sich keine Sorgen machen, und sie würde sich schon melden.
Ein letztes Mal wandte sie sich ihrem Freund zu - und erstarrte in der Bewegung.
Harrys Augen standen offen!
***
Das Einschlafen hatte Harry Stahl nicht gemerkt. Er war plötzlich weg gewesen. Tief hineingedrückt in das urdunkle Schattenreich des Schlafs, in dem sich die Träume versammelten und die Schlafenden überfielen.
Auch Harry träumte.
Das Unterbewußtsein räumte auf. All das, was er erlebt hatte, kochte wieder hoch, damit er es verarbeiten konnte. In seinem Traum veränderte sich die Szenerie, die er erlebt hatte. Er sah sich auf dem Friedhof, er sah den Vampirengel, all die Grabsteine und die Gestalten der People of Sin.
Sie sahen schrecklich aus. Keine Menschen mehr. Aus ihnen waren Zombies geworden. Aufgedunsene und halb verweste Gestalten, die sich über die schmalen Wege bewegten oder tumb zwischen den Grabreihen umherstampften.
Ihre Gesichter verliefen zu einem soßigen Brei. Die Münder standen offen, als wären sie darauf geeicht, noch schnell nach irgendeiner Beute zu schnappen.
Eine
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