1092 - Der Vampirengel
Fenster konnte man auch von innen öffnen, um frische Luft in den Raum zu lassen.
Dagmar zog es auf.
Die kalte Nachtluft drängte in das Zimmer. Sie erreichte auch Harry Stahl, dem plötzlich klarwurde, auf welchem Weg Dagmar das Zimmer verlassen wollte.
Und das im dritten Stock!
»Nein, nein!« Er glaubte zu schreien, brachte jedoch nur ein dünnes Krächzen hervor.
Die Angst bannte ihn ans Bett. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Aber er konnte zuschauen, denn er hatte die Augen verdreht. Dagmar hielt sich noch immer vor dem offenen Fenster auf.
Wind blies gegen sie und blähte ihre Kleidung auf. Sie drehte sich nicht mehr zu ihm um, sondern schaute hinaus in den dunklen Himmel über der Stadt am Rhein.
Eine Bewegung.
Von oben her glitt etwas wie eine helle Schlange an der Hotelfassade nach unten.
Kein Schattenspiel aus Hell und Dunkel, sondern eine nackte Frauengestalt mit Flügeln.
Angela war da.
Vor dem Fenster kam sie zur Ruhe. Sie schaute ihre neue Freundin an und streckte ihr beide Arme entgegen. Für Dagmar war es das Zeichen, auf die Fensterbank zu steigen. Mit einer wie geübt wirkenden Bewegung tat sie es, blieb noch für einen Moment stehen, drehte sich aber nicht um, sondern ließ sich einfach fallen.
Darauf hatte Angela gewartet. In ihre auffangbereiten Hände hinein fiel Dagmar, wurde abgestützt, dann aufgefangen und lag schließlich quer zum Körper des Vampirengels.
Angela bewegte ihre Flügel.
Ein letzter Blick in das Zimmer, ein kantiges Lächeln, das ihre Zähne freiließ, dann flog sie zusammen mit Dagmar davon und glitt hinein in den dunklen Himmel.
Sekunden später waren die beiden so unterschiedlichen Frauen verschwunden, die trotz allem eine Gemeinsamkeit besaßen.
Zurück blieb Harry Stahl. Er lag im Bett und wollte auch nicht hoch. Etwas zwang ihn dazu, liegenzubleiben. Es war kein Traum mehr, er schob es auf seine eigene Schwäche. Die Müdigkeit kehrte zurück. Der kalte Wind wehte in das Zimmer. Er strich auch über das Bett hinweg und hinterließ auf Harrys Haut einen Schauer.
Zuerst war es ein Traum gewesen, der Harry Stahl so schrecklich malträtiert hatte. Der war von der Wirklichkeit verdrängt worden, und an sie erinnerte sich Stahl besonders.
Dagmar war dagewesen. Sie hatte ihn besucht. Sie hatte mit ihm gesprochen und ihn sogar geküßt.
Noch jetzt hatte er das Gefühl, ein Brennen auf den Lippen zu spüren.
Kein Traum, sondern Wirklichkeit.
Und Dagmar war normal gewesen. Kein Vampir. Ihr waren keine Zähne gewachsen, aber er hatte auch nicht ihr drittes Auge auf der Stirn gesehen.
Auch hatte sie mit ihm gesprochen, und diese Worte würde er nie vergessen.
Sie mußte ihren eigenen Weg gehen. Sie hatte eine neue Aufgabe übernommen. Wahrscheinlich zusammen mit Angela. Sie und der Vampirengel waren Partnerinnen geworden.
Eine neue Aufgabe.
Diese drei Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Einerseits fühlte er sich ruhiger, andererseits fürchtete er sich vor der Zukunft.
In was war Dagmar da hineingezogen worden?
Er konnte es nicht einmal erraten. Aber es hatte auch mit den Blutsaugern zu tun und mit den Psychonauten möglicherweise.
Harry Stahl war hellwach. Kein Gedanke mehr an Schlaf. Er stand auf und ging zum Fenster. Trotz seines Wachseins fiel es ihm schwer, normal zu gehen. Bei jedem Schritt schwankte er leicht, und er fluchte über sich selbst.
Das Fenster stand weit offen. Der Wind war in seiner Nähe kälter. Er spielte auch mit den Gardinen und wehte sei ihm wie blasse Leichentücher entgegen.
Harry warf einen Blick in den Himmel. Wolken bildeten eine nicht ganz kompakte Masse. Es gab Lücken im dunklen Grau. Durch sie blinzelte das Licht der Gestirne, wenn man genauer hinschaute.
Mehr war nicht zu sehen. Kein Vampirengel, der mit seiner Beute durch die Luft schwebte. Alles war wieder völlig normal geworden. Und dennoch war das Normale für Harry Stahl unnormal geworden.
Er schloß das Fenster und zog sich zurück. Diesmal legte er sich nicht wieder hin. Er schaltete das Licht einer Nachttischlampe ein und ging ins Bad.
Im Spiegel sah er sich. Er wirkte abgekämpft, übermüdet, mit Ringen unter den Augen.
Er trank Wasser. Wusch sein Gesicht. Der Kopf kam ihm vor wie zugedröhnt, und er gestand sich ein, daß es in seinem Zustand kaum möglich war, Jagd auf einen blutgierigen Vampir zu machen.
Zwar hatte Dagmar ihm erklärt, daß er sich keine Sorgen zu machen brauchte, aber Harry zählte zu den Menschen, die nicht so schnell
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