1096 - Baphomets Henker
aber wir vergessen nichts. Da sind wir wie eine Mühle, die sehr langsam mahlt. Und bald wirst du ohne deinen Vater leben müssen, meine Kleine.«
»Nein!«
»Doch!« Kurak hob das Messer so an, daß Amy es genau sehen konnte. Im Licht der Kerzen hatte sich die Klinge verändert, sie schien sogar zu schmelzen, doch das war eine Täuschung. Der Kerzenschein fing sich auf dem Metall und ließ es weich aussehen.
Amy konnte nicht mehr hinschauen. Sie zitterte. Einem Kind derartig schlimme Worte zu sagen, darüber kam sie nicht hinweg. Das war einfach furchtbar.
»Nun…?«
Sie begann zu weinen. Dabei sprach sie schluchzend von ihren Eltern und der Familie, doch sie brachte die Worte nur zusammenhanglos hervor, und der Henker des Baphomet kümmerte sich nicht um sie. Er stand auf.
Dabei bewegte er sich langsam. Mit der freien Hand stützte er sich an der Wand ab. Für ein sitzendes Kind mußte dieser hochgewachsene und breitschultrige Mensch mehr ein Riese sein. Sogar das bleiche Gesicht war viel größer als das eines normalen Menschen. Amy hätte sich nicht gewundert, wenn er mit seinem dunklen Haar die Decke berührt hätte.
Er war böse und widerlich. Amy wollte nicht hinsehen. Sie schielte zur Seite. Wenn er ging, warf seine Gestalt einen breiten Schatten auf den Boden, und bei jedem Schritt schwang sein langer Mantel leicht mit.
In diesem großen und düsteren Gefängnis war es schmutzig. Der Dreck lag auf dem Boden, und er knirschte unter den Füßen des Mörders, als dieser langsam auf und ab ging. Er mußte sich bewegen und kümmerte sich nicht um seine Gefangene.
Amy blieb sitzen. Sie sah ihm nach. Schaute dabei auf seinen Rücken und auf das lange dunkle Haar, das in seinen Nacken hineinwellte. Er kam auch nicht mehr zurück, denn er ging zur Tür.
Durch diesen Eingang waren sie gekommen. Amy erinnerte sich genau daran. Da hatte er sie über die Schwelle getragen, und sie hatte das Gefühl gehabt, in ein großes Grab gebracht zu werden, in dem es schrecklich düster war.
Jetzt ging er wieder auf die Tür zu und öffnete sie. Amy hörte das typische Geräusch, als sie mit der unteren Seite über den Boden schabte.
Für eine Sekunde zuckte die irrsinnige Hoffnung durch ihren Kopf, daß er einfach verschwand wie ein schlimmer Traum beim Wachwerden und sie allein zurückließ. Das wäre nicht schlimm gewesen. Sie wäre irgendwann aufgestanden und mit sehr kleinen Schritten losgegangen, um draußen Hilfe zu finden.
Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch.
In der offenen Tür blieb er stehen und schaute nach draußen in die kühle Luft und in die allmählich sich anschleichende Dämmerung, die den grauen Tag bald ablösen würde.
Er war so breit, daß er beinahe die gesamte Türöffnung ausfüllte. Er drehte sich nicht um und schaute nur nach vorn. Dort war es heller. Amy saß im dunklen Teil des Hauses, wo sich das Dach hin senkte und recht tief gezogen war.
Jetzt spürte sie wieder ihren Herzschlag. Anders als sonst. Er war laut oder kam ihr laut vor. Sie hätte viel darum gegeben, mit ihren Eltern sprechen zu können, um ihnen zu sagen, daß sie noch lebte. Sie wußte ja, daß sie sich so große Sorgen machten. Pa hatte sie immer als seinen kleinen Sonnenschein angesehen, doch nun hatte diese Sonne einen schwarzen Fleck bekommen.
Alles lief anders…
Das Leben war nicht mehr wie sonst. Es hatte einen breiten Riß bekommen. Sogar einen Abgrund, über den sie auf keinen Fall springen konnte.
Wieder mußte sie weinen. Von draußen her wehte Wind in die alte Kirche oder was immer der Raum auch sein mochte. Amy spürte seine kühlen Finger über ihr Gesicht streichen und dachte daran, daß in manchen Märchen der Tod immer als so kalt beschrieben worden war.
Wie jetzt hier…
Kam er schon?
Amy verkrampfte innerlich, als sie daran dachte. Sie konnte es nicht glauben, sie wollte es auch nicht. Die Mutter hatte ihr immer gesagt, daß Märchen nicht der Wahrheit entsprachen und eigentlich nur vergleichende Geschichten zum richtigen Leben waren, aber diese Grenzen waren für Amy nun eingerissen worden. Ihr Leben war ebenso schrecklich geworden wie der Inhalt manchen Märchens.
Was würde der Riese noch tun?
Er wollte ihren Vater, das hatte er gesagt. Er hatte auch mit ihm oder ihrer Mutter telefoniert, aber er hatte die beiden nicht mit Amy sprechen lassen.
Er wollte sie auch wieder anrufen. Darauf wartete Amy. Vielleicht hatte er auch gelogen, doch daran glaubte sie nicht. Sie konnte schon
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